Skurrile Geschichten des Türmers Oder: Warum wir den Polarforschern das Kreuzviertel verdanken / Buchvorstellung

St. Lamberti ist zur Zeit in aller Munde. Ein paar letzte Tage noch leuchtet die Himmelsleiter, Münsters weithin sichtbarste Kunstinstallation, vom Turm des altehrwürdigen Gotteshauses. Auf dem Prinzipalmarkt direkt zu ihren Füßen und weit darüber hinaus demonstrierten Zehntausende gegen den sich wieder aus dem braunsten Schlamm ans Tageslicht lügenden Faschismus. Türmerin Martje Thalmann feiert ihr zehnjähriges Jubiäum als erste Türmerin der Stadtgeschichte. Eine hervorragende Gelegenheit, einen Blick auf das literarische Schaffen eines ihrer Amtsvorgänger Leonhard Ostendorf zu werfen.

Als Nachfahre mütterlicherseits der Zuckerhändler-Dynastie Terfloth, deren Namen er dem seinen immer gerne anfügte, suchte er sein Glück allerdings nicht im ertragreichen Handel, sondern in Kunst und Kultur. Nachdem ein Unfall seine durchaus aussichtsreiche Schauspielkarriere jäh beendete, verschlug es ihn schließlich in Münsters höchstes Amt – als Türmer auf den Turm von St. Lamberti. Hier umwehte ihn die Stadtluft und inspirierte ihn zu allerlei preisgekrönten Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken und Erzählungen.

Wolfgang Braden, ein langjähriger Wegbegleiter des ehemaligen Türmers, hat jüngst eine Sammlung von 50 Geschichten aus der Feder dieses münsterschen Originals im agenda Verlag veröffentlicht. Der Titel „Die skurrile Welt des Leonhard Ostendorf“ fasst diese Auswahl in ihren wesentlichen Zügen gut zusammen, denn an Skurrilitäten mangelt es den kurzen Erzählungen nicht. Wer also schlichte Alltagsbeobachtungen vom Turme herab erwartet, wird sein blaues – oder eher facettenreich-buntes – Wunder erleben. Einen Sinn für tiefgehende Beobachtungen seiner Mitmenschen liest man aus den Kurzgeschichten allerdings heraus – das Menschliche in allen Facetten, von nachdenktlich-nüchtern bis schrill-schillernd verleiht den Geschichten Strahlkraft und regt mehr als einmal zum Nachdenken und zur Selbstreflexion an. Und wer wissen möchte, warum wir die Entstehung des Kreuzviertels eigentlich den Polarforschern zu verdanken haben, kommt um das Vergnügen, dieses Buch zu lesen, ohnehin nicht herum.

Die Sammlung endet mit einem wundervollen Nachruf auf einen verstorbenen Freund, und es geht um die wichtigen Dinge im Leben, die es abseits der Pflicht lebenswert machen: „Die Anprobe fiel aus an diesem Abend, und wir gingen ein Bier trinken.“ Und vielleicht trägt dieses Buch dazu bei, dass man auch über Leonhard Ostendorf, der im Mai 2022 verstarb, sagen kann: „Er ist nicht tot. Er ist nur aus der Welt der Sichtbaren gegangen.“

Wolfgang Braden (Hrsg.): Die skurrile Welt des Leonhard Ostendorf. 50 Geschichten des Türmers von St. Lamberti. Agenda Verlag Münster 2024. 243 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 978-3-89688-818-1

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