8. Mai 2019 und 13.12.1941 Im Zeichen eins friedlichen und gemeinschaftlichen Europas / 4. Teil der Masematte-Kolumne "alles jovelino?"

Es war am Meimeln beim letzten Gedenken zum 8. Mai am Zwinger. (Foto: Marion Lohoff-Börger)
Es war am Meimeln beim letzten Gedenken zum 8. Mai am Zwinger. (Foto: Marion Lohoff-Börger)

Am 8. Mai stand ich mit anderen Seegers und Kalinen am späten Nachmittag am Zwinger, dem alten Schemmbeis an der Promenade, der Leezenstrehle. Es war am Meimeln, aber dat störte uns nicht. Wir haben zugehört, wie einige davon rakawehlt haben, ob Münster ömmes die Stadt des Friedens war oder ist oder sei oder wäre …

Der 8. Mai ist der „Tag der Befreiung“. Der Befreiung Europas von einem nerbelo schoflen Krieg, der Befreiung aller von den Nationalsozialisten. Mein Vater, heute 90 Jahre alt, musste als Jugendlicher von 16 Jahren, nachdem zwei seiner Brüder bereits gefallen waren, noch in diesen grausamen Krieg ziehen und geriet noch in Gefangenschaft. In meiner Kindheit war in meiner Familie der 8. Mai immer ein besonderer Tag, ein Gedenktag. Dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

Und deswegen stand ich dort in der Meimelatur und fand dat jovel, dat da welche wat von Frieden rakawehlt und vorgeschallert haben. Was viele Münsteraner nicht wissen, ist, dass wir die Masematte in ihrer ursprünglichen Form mit ihren Sprechern durch den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg verloren haben.

Masemattesprecher wurden als Juden, Sinti, Roma und sogenannte „Asoziale“ deportiert und umgebracht.
Zum anderen wurden die Sprecherviertel wie Pluggendorf, die Gegenden um die heutige Jüdefelderstraße und Sonnenstraße komplett im Krieg zerstört. Nur Klein-Muffi, zwischen Wolbecker Straße und Kanal im Hansaviertel gelegen, ist einigermaßen erhalten geblieben und deswegen findet man dort noch „Native-Speaker“.

Die Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Holocaust in Münster liegt etwas versteckt an der Ecke Warendorfer Straße / Kaiser-Wilhelm-Ring (Foto: Michael Bührke)
Die Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Holocaust in Münster liegt etwas versteckt an der Ecke Warendorfer Straße / Kaiser-Wilhelm-Ring (Foto: Michael Bührke)

In meinen Musiklesungen „Mehr Massel als Brassel“ mit Martje Saljé bauen wir, auch wenn es sonst sehr lustig zugeht, immer einen Teil ein, wo wir der Holocaust-Opfer gedenken und damit diesen Aspekt des Untergangs der originalen Masematte unseren ZuhörerInnen deutlich machen wollen. Zuerst lese ich das Gedicht „Beseibelter Jif“ aus meinem Buch vor und dann singt Martje „Donna, Donna“, ein jiddisches Lied, das das Leiden des jüdischen Volkes in eindrücklichen Bildern beschreibt. Oft müssen wir gemeinsam mit unserem Publikum die Tränen wegdrücken. Oder auch nicht.

Modewehl!  Heute also, im Zeichen eines friedlichen Europas, mein Mahn-Gedicht „Beseibelter Jif“, schmutziger Schnee, wo es um eine Nacht im Dezember 1941 geht, als hundertfünfunddreißig Menschen aus Münster und Umgebung am damaligen Gertrudenhof (heute Ecke Hohenzollernring/Warendorfer Straße) darauf warteten, deportiert zu werden.

Beseibelter Jif

Aus den Vierteln der Stadt
wie Beheime, Vieh, zusammengetrieben
stehen sie zitternd an der Ecke
und warten.
Es ist kalt, nur der Wind pfeift.
Schwaches milchiges Licht
fällt trostlos
aus der Fenete der alten Katschemme.
Schneeregen meimelt auf sie herab.
Unheilvolle Stille. Schofle Stieke.
Furchterstarrter Frost.
Sie frieren. Sie frieren. Sie frieren.
Sie halten einander an den Fehmen.
Wissend oder nicht wissend,
was die Zukunft bringt.
Sie fragen nicht,
sie wagen nicht zu fragen:

Wohin geht die Reise?
Wird es die letzte sein?
Werden wir uns wiedersehen?
War hier unsere Heimat?
Nun ist solange schon Nacht.
Schutzlos, marole, müde, verloren
stehen sie zusammen
in unheilbringender Verlassenheit,
ihre Augen suchen Halt,
ihre Hände klammern fester und fester.

Ist es soweit?
Die Angst ist groß, sie hegen hamel More,
groß wie die traurigen Augen des Kindes,
das sich am Mantel der Mutter,
der Kowe der Alschen, festhält,
weitaufgerissene Augen, die fragen:
Was passiert mit uns?
Warum wir?
Warum hilft keiner?
Warum ist es so kalt?
Es ist soweit.

Von Ferne bedrohliches Dröhnen.
Die Lastwagen.
Der Mulopenk, der Todbringer, kommt.
Sie werden sie zum Güterbahnhof bringen.
Wie Beheime
eingepfercht in einen Güterwaggon,
werden
135 Menschen
aus Münster
am 14.12.1941
um 10 Uhr
deportiert werden.
Jetzt beten sie, schluchzen, schreien, klagen:

Warum hast du uns verlassen?

Dann sind sie fort.
Und zurück bleibt
in frosterstarrter Stille
beseibelter Jif.

Marion Lohoff-Börger

Glossar:
Seegers: Männer / Kalinen: Frauen / Schemmbeis: Gefängnis / Leezenstrehle: Fahrradstraße, hier Promenade / meimeln: regnen / rakawehlen: erzählen / ömmes: tatsächlich / nerbelo: verrückt / schofel: schlecht, böse / Meimelatur: Regen / schallern: singen / modewehl: oh je /

Beheime: Vieh / Fenete: Fenster / Katschemme: Kneipe, Restaurant / Stieke: Stille / Fehmen: Hände / marole: müde / hamel More: große Angst / Kowe: Mantel / Alsche: Mutter / Mulopenk: Tod / beseibelter Jif: schmutziger Schnee

Lohoff-Börger, Marion: Mehr Massel als Brassel. Endlich Masematte verstehen und einen toften Lenz hegen. agenda Verlag, 2018

Nächste Lesung: „Mehr Massel als Brassel“ mit mir und Martje Saljé am 24.5. im Hiltruper Museum um 19 Uhr. Karten im Vorverkauf 12,50 € in der Hiltruper Buchhandlung und an der Abendkasse (15 €).

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