Schon die Uroma unserer Autorin Iris Brandewiede wusste: „Die meisten Unfälle passieren im Haushalt!“ Leider bestätigt die Kolumnistin diese Regel gerade mit ihrem persönlichen Ausnahmezustand.
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Mittwochmittag in einer Büroetage, kurz vorm Termin mit meiner Vorgesetzten. Statt angemessen respektabler Kleidung trage ich ein leicht verschwitztes Sportoutfit und umfange meinen kleinen Finger mit einem Kühlgelkissen. Eine freundliche Frau fragt, ob sie helfen könne. Ich präsentiere das leicht verbogene Unfallopfer, berichte von meiner Unachtsamkeit im beim Ballsport. Nach der Erstversorgung durch meine Kollegin wolle ich es nun mit der mentalen Technik des Weg-Ignorierens probieren, scherze ich. Die Frau nimmt kritisch Augenmaß, blickt mir dann kritisch in die Augen: „Ich empfehle Ihnen eher, einen Arzt aufzusuchen!“ Meine Vorgesetzte tritt aus ihrem Büro, schaut auf meinen Finger und schließt sich der Erst-Diagnose ihrer Kollegin an.
Wenig später sitze ich, die Schwellung kühlend, zu Hause. Ich google. Mittwochs nachmittags ist die fachärztliche Versorgung eher mau. Nur einige privatärztliche Praxen bieten ihre Dienste an. Am Telefon erfahre ich: Dienstunfälle fallen in die Zuständigkeit des „Durchgangsarztes“. Diese Dienstleistung werde hier leider nicht vorgehalten. Die Durchgangsärzte haben jetzt keine Sprechstunde mehr. Ich melde mich für den Morgen des Folgetages vom Dienst ab. Donnerstag Morgen. Provisorische Schiene und nächtliche Kühlung haben kein Wunder gewirkt. Bereits nach zwölf Minuten „A Whiter Shade of Pale“ in der Telefondüdelschleife erreichte ich eine medizinische Fachangestellte und ziehe gleich mein Dienstunfall-Ass aus dem Ärmel. Dass ich meinen heutigen Dienst gern bald aufnehmen möchte, führt dazu, dass ich sofort kommen darf. Mit Kühlkissen und Pappschiene eiere ich unter höchster Konzentration über Geheimwege zur Praxis. Mir darf jetzt kein zweiter Unfall passieren.
Am Eingang kämpfe ich linksseitig mit der Hand-Desinfektion. Der erste Patient lässt mir mit mitfühlendem Blick den Vortritt. Ich schildere der müden Mitarbeiterin mein Anliegen. Sie holt ihre Kollegin zur Hilfe. Die beiden murmeln. Laut fragt die Erste: „Sie sind doch ein Dienstunfall …?“ Ich bejahe. „Aber Sie sind keine BG“, sagt die Zweite. Ratlos bleibe ich stumm. Die Zweite hakt nach: „Sind Sie Beamtin?“ Verstohlen schaue ich über meine Schulter. Der Hintermann nickt mir aufmunternd zu. Ich bejahe. Die Zweite konstatiert: „Dann sind Sie keine BG.“ Fröhlich tippt die Erste in die Tastatur. Zaghaft frage ich: „Was bin ich denn dann?“ – Sie zwinkert mir vertraulich zu: „Für uns ist das egal. – Sie sind ja privat!“ Ich fühle ein leichtes Ziehen im Bauchraum. Wie oft schon bin ich auf Rechnungen hängen geblieben, weil Behandelnde mich für „privat“ hielten …? Darüber zu grübeln, ermahne ich mich innerlich, führt zu nichts. Schon bin ich dran.
Der Durchgangsarzt biegt das Verbogene in alle Richtungen. Ich sehe Blitze, mir wird übel. Während der Röntgenuntersuchung stabilisiert sich der Kreislauf wieder. Der Fachmann zeigt mir im Röntgenbild den Ausriss eines „Knöchelchens“, da hänge die Sehne dran, die sei ab, das sehe man sehr schön. Die schwarzweißen Schattierungen haben tatsächlich eine gewisse Ästhetik. Ich darf ein Foto machen: „Ist ja Ihr Finger!“ Der Arzt bedauert, er könne eine solche Fraktur leider nicht behandeln und überweist mich an einen Spezialisten. Die Assistentin versorgt mich mit einer starren Plastikschiene, der Bescheinigung meines Dienstunfalles sowie der direkten Durchwahl zur Handchirurgie auf dem Überweisungsformular. Ohne das Handy mit der Schiene zu beschädigen, wähle ich die Nummer. Zur Abklärung meiner Dienstfähigkeit darf ich sofort vorbeikommen. Für heute melde ich mich endgültig vom Dienst ab. Wieder mache ich mich mit höchster Achtsamkeit auf den Weg.
Linkshändig kämpfe ich am Klinikeingang mit dem Desinfektionsmittelspender und der Handybedienung beim Impfpass-Check. In der Aufnahme oute ich gleich meinen Status. Die Verwaltungsfachkraft ruft ihre Kollegin hinzu. Sie murmeln. Laut sagt die Zweite: „Sie sind ein Dienstunfall?“ Ich bejahe. „Aber Sie sind keine BG?“ Ich antworte, das wisse ich nicht, dies sei mein erster Unfall. „Janee, Sie sind keine BG, das sehe ich hier“, bestätigt die Erste. „Was bin ich denn dann …?“, frage ich zaghaft. Fröhlich tippend antwortet sie: „Für uns ist das egal, Sie sind ja privat.“
Zwei Stunden später. Die nette Ärztin klärt mich auf und findet einen zeitnahen Operations-Termin. Die Voruntersuchungen laufen noch heute. Ich unterschreibe zahllose Formulare, die meine klaglose Akzeptanz sämtlicher Folgeschäden gesundheitlicher und finanzieller Art rechtssicher bestätigen. Die Fachfrau wünscht mir alles Gute – und malt mir mit Edding einen dicken schwarzen Pfeil auf die Haut, der unmissverständlich auf das Operationsgebiet weist. Diese Form präoperativen Qualitätsmanagements lässt kurze Panik in mir aufwallen. Ich unterdrücke das mit einem schlechten Ärztewitz und der Bitte um ein Foto. „Klar“, grinst die Ärztin, „- ist ja Ihr Finger.“ Dann raunt sie vertraulich: „Im Ernst, ich würde den Pfeil vor der OP farblich nochmal auffrischen!“
Postoperativ müsse ich vor allem stillhalten, heißt es. Uroma hat oft gegackert: „Lachen ist die beste Medizin!“ Da ich rechts den Schaden habe, werde ich mit links für den Spott sorgen. Das wäre doch gelacht!
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