„Ich bin ein Naturmensch“ 6. Folge der Serie „Mein FASD ganz normales Leben“ von Iris Brandewiede und Ingrid Hagenhenrich mit dem 19-jährigen Michael aus Münster

Michael wechselt die Perspektive. Im Garten seiner Eltern liegt er gern auf dem Rücken, spürt das warme Gras und schaut in den Himmel. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
Michael wechselt die Perspektive. Im Garten seiner Eltern liegt er gern auf dem Rücken, spürt das warme Gras und schaut in den Himmel. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sind. Viele Betroffene kommen als augenscheinlich gesunde Babys zur Welt. Erst während des Heranwachsens zeigen sich häufig ihre Einschränkungen. Die Symptome werden oft mit dem ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt, gerade wenn der Alkoholkonsum unbekannt ist. Regelmäßig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zur Diagnose, staatlicher Unterstützung und passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.

Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der sechsten Folge der Serie treffen wir den 19-jährigen Michael aus Münster.

Naturmensch Michael mag besondere Blickwinkel. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
Naturmensch Michael mag besondere Blickwinkel. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Ich bin leidenschaftlicher Pfadfinder, seit über neun Jahren. Auf dem Foto sieht man meine Pfadfinderkleidung. Die trage ich zu besonderen Anlässen, zum Beispiel bei Pfadfinderlagern oder wenn einmal im Jahr das Friedenslicht aus Jerusalem in den Dom in Münster gebracht wird. Mein Stamm ist die DPSG Sankt Franziskus. Hier habe ich meine Kluft und mein Halstuch an. Ich bin jetzt in der älteren Stufe danach folgen nur noch die Leiter. Als „Rover“ trage ich das rote Halstuch. Wir gehen viel auf Reisen, lernen andere Kulturen und Sitten kennen. Bei internationalen Treffen verständigen wir uns häufig auf Englisch – ich mehr mit den Händen und den Füßen. Meine Leidenschaft für die Pfadfinder hat damit zu tun, dass wir viel in der Natur unterwegs sind. Du lernst, dich auch ohne Technik, zum Beispiel dem Handy, zu orientieren. Zum Beispiel orientieren wir uns nach der Sonne und den Sternen. Du lernst bei den Pfadfindern auch, dass du in der Gruppe eine gewisse Verantwortung trägst, dir und den anderen gegenüber. Ältere sind für die Jüngeren verantwortlich, wenn die Betreuer nicht da sind. Gleichzeitig kannst du dort so sein, wie du bist. Ich kann mit meiner Einschränkung problemlos das Programm mitmachen, ohne dass jemand sagen würde „Der sticht aus der Menge raus“. Klar muss man manchmal ein bisschen Rücksicht nehmen, wenn jemand ein Handicap hat.

Beim Musikhören (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Typisch ich: Ohne Musik bin ich nicht ich! Ich höre Musik, wenn ich gestresst bin, wenn ich mich konzentrieren will und einfach prinzipiell: Ich liebe Musik über alles!

Wenn ich gestresst bin, höre ich richtig laute, basslastige Musik. Hardcore von den Interpreten Dr. Peacock oder anderen bekannten in der Szene; Trip to Valhalla oder Trip to Mass sind meine Lieblingslieder.
Wenn ich gute Laune habe, höre ich Rock, Pop, Partymusik. Gerade habe ich zum Beispiel gehört „Du bist Bombe“ und „Party Animal“ von Michael von der Rampe.

Ich singe die Songs mit, wo ich den Text halbwegs bis gut kenne, und zwar richtig laut!

Bei der Arbeit darf ich Musik hören, ich habe das mit meinen Ausbildern und dem Klassenlehrer besprochen. Die Musik hilft mir, mich besser zu konzentrieren.

Ich höre über Kopfhörer, nicht laut, und singe höchstens mal ganz leise mit, wenn überhaupt. Das sind dann Mixe, alles querbeet. Außer Klassik – damit kann man mich wirklich jagen!

Im Hintergrund auf dem Bild sieht man übrigens einen Kalender mit Islandpferden. Die liebe ich über alles, seit ich als Kind beim Heilpädagogischen Reiten den Isländer Fönix kennen gelernt habe. Fönix ist am 10. Januar 2019 gestorben, mit 46 Jahren. Als er eigentlich schon Rentner war, durfte ich ihn als Letzter noch reiten. Bevor Fönix gestorben ist, ist er nochmal aufgestanden und zu mir gekommen. Wir hatten eine sehr enge Bindung zueinander. Ich besitze vier Hufeisen und sein Halfter plus Strick, was ihm zuletzt gehört hatte.

Michael ist ein wandelndes Lehrbuch seines Handwerks. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
Michael ist ein wandelndes Lehrbuch seines Handwerks. (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Ich bin im zweiten Lehrjahr meiner dreijährigen Ausbildung zum Schäftemacher. Der Schaft ist der obere Teil vom Schuh. Weitere Berufe in diesem Bereich sind Schuhmacher, Fachrichtung Schaftbau, und Maßschuhmacher. Das höchste, was du machen kannst, ist der Orthopädieschuhmacher. Es geht immer um Maßschuhe und orthopädische Schuhe für Menschen, die keine herkömmlichen Schuhe tragen können.
Den Schaft mit dem Schiff habe ich für meinen Papa gemacht, den Schaft mit den Drei Fragezeichen für meine Zwillingsschwester. Ich habe auch schon Schuhe meiner Familie mit zur Arbeit genommen, um sie zu reparieren.

Mein Arbeitsprozess sieht so aus: Ich bekomme einen Leisten. Ich vermesse den Leisten. Ich kopiere den Leisten und mache ein Muster. Am schwierigsten ist es, das Leder genauestens zuzuschneiden, sodass es genau ausschaut wie das Muster. Auch sehr schwierig finde ich, das Leder in der Maschine zu schärfen. Schärfen ist ein Fachbegriff. Das bedeutet, man muss die Kanten dünner machen, damit die Nähte nicht so wulstig werden.

Ein bis zwei Tage in der Woche haben wir Berufsschule. Um die Ausbildung machen zu können, lebe ich in einem Internat.

Die Arbeit macht mir viel Spaß. Ich bin handwerklich sehr geschickt und beschäftige sehr gern meine Hände. Aber es ist nicht mein Wunschberuf. Am liebsten wäre ich Landwirt geworden. In der Berufsvorbereitung wurde mir davon abgeraten. Nach der Ausbildung möchte ich am liebsten in die Landwirtschaft und mit Tieren arbeiten.

Als meine Zwillingsschwester und ich die Diagnose FASD bekommen haben, waren wir schon zehn Jahre alt. Vorher war es ein Rätselraten. „Der ist manchmal ein bisschen drüber“ konnte ja nicht erklären, warum ich solche Schwierigkeiten in vielen Punkten hatte, warum ich so viel Probleme hatte. Schwierigkeiten mit dem Hören habe ich besonders, wenn die Umgebung sehr geräuschlastig ist und viele unterschiedliche Geräusche vorhanden sind. Beim Sehen, habe ich Schwierigkeiten Kleingedrucktes zu lesen, das kleiner als die Schriftgröße 14 ist. Als Mama und Papa mit uns über die Diagnose gesprochen haben, wussten wir alle, warum wir so sind, wie wir sind.

Du weißt dann, woran du bist. Du weißt, wie man damit umzugehen hat – oder du lernst es irgendwann. Wenn andere mich gefragt haben: „Warum bist du gerade so und so?“, dann musste ich früher sagen: „Ich weiß es nicht…“

Jetzt ist klar, bei mir sind manche Nervenbahnen einfach geschädigt. Dann sage ich manchmal: „Die machen gerade ein bisschen Party.“

Einen Vorteil hat es sogar, mit dem FASD zu leben: Wenn etwas richtig Blödes passiert, vergesse ich es genau so schnell wie alles andere und bleibe einfach cool.

Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/

Biographie einer jungen Frau mit dem FASD: „Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen“, Agenda Verlag, Münster: https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ 
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/
Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier:
„Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast: www.chaosimkopf.info/
Institut FASD Münster: www.institut-fasd.de
FASzinierenD – Homepage von Ralf Neier: faszinierend.org

Ein Kommentar

  1. Sehr berührend. Und diese Kraft der Menschen, mit ihrem Handicap umzugehen, ihre Stärken zu erkennen und auch einzusetzen. Da wir ein FASD Erziehungskind in unserer family vor 5 Jahren aufgenommen haben, kann ich den anstrengenden Tafesablauf nachfühlen, so in etwa jedenfalls. Wünsch für die Zukunft alles erdenklich Gutes, auf dass sich Träume und Wünsche erfüllen und das Leben zufrieden macht.

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