Seit über einem Dutzend Wochen üben wir, das Gegenteil von locker zu sein, um des hohen Gutes der Gesundheit willen. Wir haben gelernt, uns ausnahmszustandsweise nicht von unserem Ego leiten zu lassen, sondern stets das Wohl unserer Nächsten, der Gemeinschaft, der Nation, ja der Weltbevölkerung im Blick zu behalten.
Wir Westfalen galten nie als Spontis der Republik. Die Deutschen gehen wiederum nicht direkt als die Springinsfelde unter den europäischen Verbündeten durch. Einander soziale Nähe zu spenden ist sicher nicht die erste Tugend, welche die Welt uns zuschreibt. Und doch kostet es uns hier einige Mühe, die neuen Anstandsregeln einzuhalten! Umständlich einander umtänzelnd räumen wir Mitmenschen in Supermärkten und Nachbarn beim morgendlichen Smalltalk am Postkasten den Abstand einer menschlichen Aura ein. Wie oft kehren wir auf dem Weg zum Bäcker entnervt auf halber Strecke um, weil wir feststellen, dass die frisch gewaschene Alltags-Mund-Nasen-Abdeckung in ihrem sterilen Beutel daheim und nicht in der Brötchentasche lagert?!
Vom ewigen Waschen mit aggressiven Seifen sind die Hände rau, weil die rückfettenden Produkte sich in den Vorratsschränken hortender Nachbarn stapeln. Die zuvor so positiv besetzte Melodie von Happy Birthday kann niemand mehr hören. Monatelang haben wir Familienangehörige nicht in Natura gesehen. Seit wir uns wieder trauen, verkneifen wir uns bei Begrüßung und Verabschiedung das seit der Kindheit geübte anständige „Drücken“.
Seit der ersten Stunde verzichten wir auf das wichtigste aller Rituale, das uns bei spontanen Begegnungen für kostbare zwei Sekunden vor unserer totalen Überforderung schützen könnte: Den kernigen Handschlag, auch mit beherztem Schulterklopfen im Übergang zur halben Umarmung erhältlich. In der täglichen Corona-Schau tröstete uns anfangs die Hilflosigkeit führender Politiker. Ihrer tausendfach einstudierten Handschüttelei beraubt, grimassierten sie entweder hilflos oder griffen versehentlich doch zu und schüttelten, was nicht geschüttelt hätte werden sollen. Zur Abschreckung kamen sie dafür via Fernsehen in unsere Wohnzimmer. Uns wäre das nicht passiert!
Wir haben unsere westfälische Sturheit zur stoischen Tugend ausgebaut. Wir sind regelkonform bis zum Gehtnichtmehr. Wenn die Mund-Nasen-Abdeckung mal unter der Nase hängt, hat das nichts mit mangelndem Verantwortungsbewusstsein zu tun, sondern mit nachlassender Sensibilität der Gesichtsnerven: Wie Brillenträger, die am Morgen vergebens nach ihrer Sehhilfe tasten, die sie längst auf der Nase tragen, spüren wir nach einem langen Arbeitstag mit Nasen-Mund-Abdeckung noch Stunden später den Stoff im Gesicht – die Phantom-Maske. Nachzufühlen trauen wir uns nicht, das wäre ein verbotener Griff ins Gesicht. Das nächste Händewaschen bringt es ans Licht des Badezimmerspiegels: Das von selbstlosen Mitmenschen genähte und gegen Spende erworbene Utensil ist längst in die sechzig-Grad-Wäsche gewandert. Wie kommen wir jetzt mit der Anordnung klar, uns wieder ein wenig lockerer zu machen?
Im Biergarten mögen wir ruhig auf unsere neuen Freiheiten anstoßen, heißt es. Dabei sollten wir möglichst einen Happen essen (persönliche Daten hinterlegen nicht vergessen!). Beim Shoppen könnten wir einen Zahn zulegen, heißt es. Dabei sollten wir stets das Ziel im Auge behalten, die einheimische Konjunktur wieder anzuschieben. Wie jetzt? Anstoßen, zulegen, im Auge behalten, anschieben? Ganz ehrlich?! Wir sind überfordert. „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln…?!“, dieser Ausruf der Missbilligung wurde nicht umsonst im Münsterland geprägt.
Mit Bauernschläue hast du eben noch auf die Stornierung deiner Pauschalreise gewartet, damit der Veranstalter den ersten Schritt tun muss. Die Fachfrau deines Reisebüros, deren Stimme immer rauer wird, hat es eben bestätigt: Dir steht die volle Erstattung zu. Das zurück gewonnene kleine Vermögen sollst du jetzt nicht für die nächsten Hamsterkäufe des nächsten Lockdowns auf die hohe Kante legen, sondern damit der Tourismusbranche in den Baumbergen auf die Beine helfen? Da darfst du ruhig einmal drüber schlafen.
Frühmorgens erzählt der Nachrichtenmann im Lokalsender, der Fleischmogul aus dem benachbarten Landkreis sei aufgeflogen. Er habe es eiskalt geschafft, seine kühlen Schlachthallen zu Hotspots umzufunktionieren. Halt! Stopp! Vorverurteilen ist verboten! Er war das nicht, sagt der Fußballmäzen. Dubiose Zwischenhändler seien Schuld, von denen er die Mitarbeiter ausleihe. Eine böse Ahnung beschleicht dich. Der Nachrichtenmann bestätigt: Im Landkreis ist alles auf Anfang. Du tröstest am Telefon die Schwiegermutter, die nun doch allein Geburtstag feiern wird.
Heute Abend gehen wir einen Happen essen. (App einschalten nicht vergessen!)
Morgen gehen wir Schnäppchen jagen – der Nachbar hat schon zugeschlagen.
Man sagt, bald wird wieder ein Tatort gedreht. Wir machen uns locker, so lange es geht!
Schöne Ferien!
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