An dieser Stelle treten in einer zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich junge Erwachsene auf die Bühne. Sie verfolgen ihre Herzensangelegenheiten, überwinden Barrieren mit Mut und Konsequenz. Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der neunten Folge erleben wir den 19-jährigen Paul aus Telgte in seinen Lieblings-Elementen.
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Das Bild zeigt mich in der Natur – da bin ich glücklich, weil ich total naturverbunden bin. Ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich mich in ein Büro setze und tippe. Ich mache gerne was mit meinen Händen, gemeinsam mit Kollegen, sodass man am Ende des Tages sieht, was man geschafft hat. Gerade bin ich im Praktikum auf dem Golfplatz, in meiner Ausbildung zum Garten-Landschaftsbauer. In meinem Praktikumsbetrieb ist eine richtig gute Atmosphäre. Wir nur sechs Leute und ein Hund. Das Areal ist neunzig Hektar groß, dass müssten ungefähr sechzig Fußballfelder sein. Ich bin relativ gut im Navigieren, aber ich habe mich da schon mehrfach verfahren.
Mir ist wichtig, dass der Kunde glücklich ist, auf Deutsch gesagt. Neulich habe ich zum Beispiel Abschläge ausgebessert. Da habe ich von einem Spieler die Rückmeldung bekommen, dass ich ein richtig guter Greenkeeper bin. Da habe ich mich voll gefreut, aber natürlich zu ihm gesagt „Hallo?! Ich bin hier nur der Praktikant – die Ausbildung dauert drei Jahre!“ Diese Woche habe ich zweimal dasselbe Lob bekommen, von meinem Ausbilder und von meinem Praktikums-Chef. Die haben beide zu mir gesagt: „Mit Leuten wie dir kann man richtig gut arbeiten!“
Meine Arbeit ist zuverlässig. Ich liefere richtig gute Qualität ab, sodass man nicht nacharbeiten muss. Ich mache das nicht schluderig. Um mal so ne Vorstellung zu kriegen: Der Rasen ist so fein gemäht, dass man den mit einem Straßenbesen abfegen kann!
Was ich cool finde an meiner Arbeit: Als Kind bin ich früher immer an Baustellen-Absperrungen vorbei gegangen und habe mich gefragt: „Wie sieht das wohl von drinnen aus?“ Und heute sehe ich von drinnen, was da los ist und was sich da bewegt.
Wasser fasziniert mich – wieviel Kraft es hat! Wasser ist das Wichtigste, was es auf der Welt gibt. Ohne Wasser ist meine Arbeit nix. Meine Pflanzen würden nicht existieren, man könnte nichts pflastern…
Ich gehe auch gerne schwimmen. Diese Woche war ich bestimmt schon siebenmal Schwimmen. Ende letzten Jahres hatten wir ein schlimmes Hochwasser in Telgte. Wir haben dann immer OKF und OKG gemacht, das sind die Abkürzungen für „Orts-Kontroll-Fahrt“ oder „Orts-Kontroll-Gang“. Das ist im Dorf so ein Ding, viele gucken, ob alles in Ordnung ist, und ein Wegbier ist auch dabei. Ich war mit meinem Vater und meiner Schwester unterwegs. Und da habe ich gefühlt zweitausend Fotos vom Hochwasser geschossen. Da waren Orte geflutet, wo vorher nie eine Pfütze stand. Auch der Golfplatz stand damals unter Wasser, haben mir die Kollegen erzählt – die haben bis Mai die Wege ausgebessert.
Die Mühle ist mein Anhaltspunkt, an dem ich weiß, dass das Wasser steigt. Wenn der untere Steg unter Wasser steht, weiß man, dass die Ems gestiegen ist. Wir wohnen auf dem höchsten Punkt – ich muss mir also keine Sorgen machen. Beim letzten Hochwasser habe ich über Facebook und bei der Feuerwehr meine Hilfe angeboten, aber die brauchten mich nicht.
In der Woche bin ich in der Ausbildung im Internat. Am Wochenende bin ich zuhause und meistens am Zocken. Natürlich keine Ballerspiele – niemals Ballerspiele! Ich zocke am „LS“, das ist ein Landwirtschafts-Simulator. – Ich mag das richtig gerne: Man hat alle Freiheiten: Ich kann Felder beackern, ich kann Forstwirtschaft machen… Das ist mega beruhigend nach einer anstrengenden Arbeitswoche.
Ich zocke an meinem PC – für den habe ich viel zu viel Geld ausgegeben – aber der ist jetzt richtig schnieke. Mit dem PC vorher konnte ich einen Brief schreiben – das war’s dann aber auch. Mein Kollege hat den neuen extra fürs Zocken zusammengebaut, mit zwei Bildschirmen. Jetzt baue ich mir eine Gaming-Wand mit indirekter Beleuchtung und allem Drum und Dran. Die Holzlatten habe ich schon. Aktuell sieht mein Zimmer aus wie Kraut und Rüben. Wenn mein Vater mir hilft, geht’s los.
Anfang des Jahres haben wir einen Kindergarten neu gestaltet. Wir hatten eine gefällte Akazie – die sind leicht zu schälen. Wir haben die Rinde abgemacht und ein natürliches Klassenzimmer gebaut, für die etwas älteren Kinder, die bald in die Schule kommen, dass die sich nach draußen setzen können und ein bisschen was über die Natur lernen. Wir haben acht Stücke in einem Viereck angeordnet, sodass es aussieht wie ein kleines Klassenzimmer, aber draußen.
Ich bin auch schon Onkel. Die kleine Ida ist jetzt anderthalb – ich liebe sie! Wenn ich mit offenen Armen dastehe und sie rennt auf mich zu – das macht glücklich! Neulich waren wir im Botanischen Garten, haben uns alles angeguckt. Ich hatte sie auf meinen Schultern sitzen und sie hat immer links und rechts zu mir runter geguckt. Einfach nur süß!
Manche glauben mir nicht, dass ich Autist bin – bin ich aber. Ich habe gut gelernt, damit umzugehen, weil meine Familie und ich uns von Anfang an mich damit befasst haben. Ich weiß das seit der zweiten Klasse, ich kenne meine Macken. Ich weiß, wo es hakelig wird. Früher konnte ich in Münster nicht durch Menschenmassen laufen, da bin ich immer möglichst am Rand oder an Hauswänden entlanggelaufen. Heute stört mich das weniger, vielleicht weil ich größer bin und über alle hinweg gucken kann.
Eine Macke habe ich aber noch: Ich esse keine Spaghetti – ich mag die Form nicht!
Der Autismus behindert mich also kaum, aber beim Lernen und der Konzentration schon. Im Hinblick auf meine Prüfungen habe ich keine Sorge vor den praktischen Prüfungsteilen. Für die Theorie habe ich im Internat eine Betreuerin, die mich bei der Vorbereitung unterstützt: Wir müssen am Ende der Ausbildung einhundertfünfzig Pflanzen mit botanischem und deutschem Namen kennen. Birke ist zum Beispiel Betula Pendula und Ahorn heißt Acer Campestres. Weitere Aufgaben sind Rasenplanung, Beet anlegen, Pflastersteine legen – in der Waage, im Lot und mit Gefälle.
In den letzten Jahren ist einfach viel zu viel passiert! Ich habe eine Ausbildung angefangen und nach zwei Jahren abgebrochen. Beim Ga-La-Bau habe ich angefangen, weil mein jetziger Ausbilder meinte: „Du kannst zwar noch nicht Pflastern, aber du schaffst das!“
Diese Entscheidung war das Beste, was ich je gemacht habe. Und mein Ausbilder ist der Beste, der ist einfach ein Menschenkenner. Der fragt morgens: „Wie geht es dir?“ Der ist richtig nett, richtig chillig. Wenn andere dir eine Maschine erklären, dann kann es ein, dass du das aus der Hand gerissen bekommst und es heißt: „Du kannst das nicht!“
Mein Ausbilder nimmt sich schonmal eine Stunde Zeit, um etwas genau zu erklären. Für Bagger, Freischneider, Laubgebläse, Heckenschere und so weiter bekommen wir eine gründliche Unterweisung. Einen Kettensägen-Schein kann ich auch machen. „Baum 1“ ist der größte Kettensägen-Schein, den will ich machen! Holz ist meins – einfach alles, was mit Holz zu tun hat.
Ich habe jetzt so gut wie sicher eine Berufsausbildung in der Tasche, mit der ich fast alles machen kann. Das feine kleine Unkrautziehen ist es für mich nicht so. Was ich mir noch überlege, ist eine Ausbildung als Greenkeeper hinten dranzuhängen – auf dem Golfplatz zu arbeiten heißt hauptsächlich Grünpflege. Es ist ziemlich ruhig, du arbeitest viel alleine und hauptsächlich mit Maschinen, aber mit den Kollegen läuft es auch entspannt.
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Paul auf Instagram: @_paul_mo_ Weiterführende Infos von Incluencer:innen und Aktivist:innen: Christian Kißler, autistischer Wissenschaftler mit Schwerpunkt Autismusforschung, auf YouTube und Instagram „Die Neue Norm“: Podcast zu aktuellen Inklusionsthemen https://dieneuenorm.de/podcast Andrea Corinna Schöne, Journalistin und Aktivistin mit Schwerpunkten Inklusion und Feminismus "bei Behinderung": @schoeneandrea Anne Gerstorff und Karina Sturm – Stoppt Ableismus! Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität Zu den Autorinnen: Instagram-Account von @ingridhagenhenrich Homepage von Ingrid Hagenhenrich https://ingrid-hagenhenrich.com/ Instagram Account von @irisbrandewie.de
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