Nach vielen Jahren, unzähligen Glücksmomenten und Widrigkeiten darf ich zwei großgezogene Kinder mein eigen nennen. Allen Unkenrufen zum Trotz bedeutet ihr offizieller Abflug aus dem Nest längst keine Leere. Ganz im Gegenteil trudeln auf dem heimischen roten Sofa permanent spannende Nachrichten ein. Wenn es gut läuft, gibt es bunte Eindrücke aus aller Welt. Wenn es kriselt, glüht der Draht. Wenn es super läuft, eröffnen die lieben Großen dem Liebsten und mir neue Horizonte.
Trotz eifriger Reisetätigkeit auf dem europäischen Kontinent war Skandinavien bisher eine unvertraute Gegend für uns. Auch mein reges Interesse an den Sprachen unserer Nachbarländer machte aus unbekanntem Grund vor den Ås und Øs halt. Dabei lernte ich schon als Kind die Heimat von Kalle Blomquist und Pippi Langstrumpf literarisch kennen. In der Studienzeit kamen Möbel mit kumpelhaften Namen hinzu. Krimifiguren mit schweren Gemütern als Erwachsenenkost und zum abendlichen Vorlesen ein rotgetigerter Kater mit Pfannkuchentorten zu mehreren Geburtstagen im Jahr warben für den Norden.
Dennoch brauchte es eine unbestimmte Sehnsucht der Großen, die zu einem bestimmten Studienaufenthalt führte, um uns in die Geburtsstätte der jungen Klimaschutzbewegung zu locken.
Kurz vor den Herbstferien. Die Frage der Großen blinkt auf: Ob wir Lust hätten, sie besuchen zu kommen..? Der Liebste frohlockt. Ich spüre leise Abenteuerlust. Zwecks Reisevorbereitungen werde ich gleich mal ein Fragezeichen auflösen: Auf den Bildern der Großen wandeln Schönheiten im bestem Licht und nicht wie erwartet in wabernden Nebeln. Statt zotteliger Pelze tragen sie sommerlichen Dress an immer wechselnden Gewässern. Sogar im Wasser tollt die internationale Gruppe, ständig strahlen die jungen Menschen im Tageslicht…?!
Meine naive Nachfrage quittiert die Weltbürgerin mit der leicht tadelnden Auskunft, es habe sie doch nicht an den Nordpol verschlagen! Auch hier gebe es einen recht verlässlichen Tag- und Nachtwechsel – wenn die Zeiten sich auch gen Winter ungünstiger verteilen als in heimatlichen Breiten.
Gleich darauf postet sie ein Bild von Kaffee und Gebäck. Das Wort für Zimtschnecke klingt in der Landessprache unwiderstehlich. Die sogenannte Fika, erläutert unsere Korrespondentin per Sprachnachricht, sei grundlegender Bestandteil des Tagesablaufs. Der Liebste plant umgehend die Reiseroute. Auf ins Land der Kanelbulla!
Jede Stunde des schier endlosen Roadtrips durch herbstliche Landschaften und über weite Gewässer lohnt sich. Die Stadt der tausend Inseln rangiert zu Recht unter den ersten fünf der weltweit lebenswertesten Orte, was wir Münsteranerinnen nun wirklich beurteilen können!
Die Inselviertel sind nach den Himmelsrichtungen benannt, zum Beispiel Södermalm, oder nach der Entstehung Gamla Stan. Ohne Heimweh denken wir an Südviertel und Altstadt. Diese Metropole auf zackigem Felsgestein hat kein gewisses Flair – sie hat alles! Vom futuristischen Büroviertel bis zum klassizistischen Prunkbau, vom winzigen Angelsteg bis zum schicken Jachthafen, vom Süßwassersee bis zur salzigen Ostsee, vom Lehrbauernhof im Wäldchen bis zur Universität auf dem Hügel und last but not least vom Nobelpreiskomitee bis zum ABBA-Museum bleibt kein Wunsch offen.
Der Liebste und ich erwandern die Stadt, treffen uns an den Lebensmittelpunkten der Großen. Wir lauschen dem alltäglichen Singsang, bei weitem melodiöser als die Vokabel für Hackbällchen aus dem Munde westfälischer Möbelhausbesucher. Wir erfreuen uns an der Vielfalt, die uns begegnet.
Derart abgelenkt, entdecken wir etwas zu spät ein älteres Paar, die einzigen Menschen weit und breit, welche so offensiv Masken tragen, das kaum die Augen frei bleiben. Da beide je eine volle Plastiktüte am seitlich ausgestreckten Arm schwenken und einander bei den Händen halten, nehmen sie den Gehweg fast vollständig ein. Der Liebste erhält bei der Beinahe-Kollision einen ordentlichen Schubs in die Rippen als Strafe für sein Unterschreiten des Sicherheitsabstandes.
Selbst auf Querdenker müssen wir also nicht verzichten. Was quer ist, ist eben relativ. Die Große bestätigt: Wer hier mit Nasen-Mund-Bedeckung ein Verkehrsmittel betritt, wird weiträumig gemieden. Der Rest der Passagiere knubbelt sich maskenlos im Rest des Fahrzeugs.
Euro gibt es hier übrigens nicht. Auch nach Kronen suchen wir vergeblich: Unbar ist die Währung. Leider sind die Preise per einfacher Dezimalrechnung schnell zu ermitteln, sodass wir schon vor Ort ahnen, wie teuer dieser Ausflug uns zu stehen kommen wird. Wir gönnen uns und der Reiseleiterin natürlich trotzdem das Pfannkuchen-Frühstück im fancy Café, die Fika im botanischen Garten und das Abendessen im Lokal am Bootssteg.
Im Studiwohnheim kochen wir gemeinsam eine vegetarische Variante des Nationalgerichts. Hier schalten wir die kleine Schwester dazu, die per Van-Life die Welt erkundet. An ihrem südlich-sonnigen Standort bekommt auch sie Lust auf Fleischklößchen mit Stampfkartoffeln.
Wieder daheim. Innerlich lausche ich dem Klang des Wortes, das ich nie wieder „Köttbullar“ aussprechen werde. Dann bereite ich mit dem letzten Kanelbulla eine Fika vor.
Schon mit dem Unkenspruch „Kleine Kinder, kleine Sorgen…“ konnte ich als junge Mutter wenig anfangen. Heute kann ich endlich kontern: „Große Kinder – großer Segen!“
Iris Brandewiede veröffentlicht ihre Geschichten-Bände im agenda-Verlag Münster. Mehr dazu auf https://agenda.de und auf der Seite der Autorin https://irisbrandewie.de.
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