„Behindert bist du nur, wenn du dich behindern lässt!“ Folge 10 der Serie „Starke Geister oder: Mein FASD ganz normales Leben“ von Iris Brandewiede und Ingrid Hagenhenrich mit dem 32-jährigen Patrick aus Havixbeck

„Was ich liebe: In der Natur zu sein und einfach meinen Job zu machen!“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Was ich liebe: In der Natur zu sein und einfach meinen Job zu machen!“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Kinder, die während der Schwangerschaft schwerem Alkoholkonsum ausgesetzt sind, können untergewichtig, mit auffällig kleinem Kopf und einer speziellen Physiognomie zur Welt kommen. Wenn äußere Zeichen sichtbar und der Alkohlkonsum der Mutter bekannt sind, wird das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) leicht diagnostizierbar.

Auch wenn Babys vermeintlich gesund zur Welt kommen, können sie während des Heranwachsens Auffälligkeiten zeigen. Weniger offensichtliche Beeinträchtigungen wie etwa das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS) zählen zu den unter FASD (Fetal Alkohol Spectrum Disorder) zusammengefassten Alkoholspektrumstörungen. Sie erschweren das Leben ebenfalls dauerhaft. Die Symptome werden oft mit denen eines ADHS oder psychischer Erkrankungen verwechselt. Häufig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.

Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der zehnten Folge der Serie treffen wir den 32-jährigen Patrick aus Havixbeck.

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Am Anfang, als ich mit meiner Ausbildung anfing, dachte ich, das wird die reinste Katastrophe! Aber ich schlag mich sehr gut, sogar in der Schule. Die Firma ist begeistert von mir, meine Lehrer, Klassenkameraden – also alles. Ich bin sogar selber von mir begeistert! Da, wo ich die größten Sorgen hatte, nämlich beim Lernen, wo ich in meiner Jugend solche Probleme hatte, läuft alles steil bergauf! Hätte man mich vor zwei, drei Jahren kennengelernt – da war ich noch total introvertiert, wollte nur für mich selbst sein, hatte viel mit Depressionen zu kämpfen.

Leider ist meine Mutter vor zwei Jahren überraschend gestorben. Das war eine harte Zeit für mich. Meine Mutter hat immer an mich geglaubt, egal welche hirnrissige Idee ich hatte. Irgendwann kam der Moment, in dem ich zu mir gesagt habe: „Jetzt bist du dran. – Jetzt musst du loslegen!“

Seit Dezember 2020 hatte ich einen ausgelagerten Arbeitsplatz bei den CariWerken in Senden, einer Tochterfirma der Caritas. Das ist ein Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Handicap. Seit August 2022 mache ich meine Ausbildung zum Garten-Landschafts-Fachwerker. Die Werker-Ausbildung ist wie die Gartenbau-Ausbildung, nur reduziert. Auf dem Berufskolleg sind wir in einer Klasse zusammengefasst. Statt 500 Pflanzen müssen wir beispielsweise nur 200 auswendig lernen. Die Firma stellt mir ein Laptop, per App bin ich vom Schulleiter bis zu jemand aus der Parallelklasse mit allen vernetzt. Auch alle Aufgaben und Themen sind da online zu finden. Ich finde das genial!

In meiner Klasse haben alle was auf der Hirse – manche vielleicht auch nur Faulheit. Ich denke, dass ich viel mehr schaffen kann als ich mir früher zugetraut habe – und andere mir zugetraut haben.

„Die Kraft, die mir die Jahre vorher gefehlt hat, habe ich jetzt gefunden.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Die Kraft, die mir die Jahre vorher gefehlt hat, habe ich jetzt gefunden.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Das Bild symbolisiert für mich die Stärke, die einen Menschen voranbringen kann. Das ist im Skaterpark aufgenommen, beim Absprung von der Rampe. Es zeigt genau den Augenblick in der Luft, bevor es nach unten geht. Niemand kann sich da gemütlich ein paar Minuten festhalten. Die Kraft, die mir die Jahre vorher gefehlt hat, habe ich jetzt gefunden. Das ist die Stärke, dass du deine Ziele erreichen kannst, wenn du darauf hinarbeitest. Wir Menschen mit FASD werden ja häufig als behindert behandelt. Ich sage immer „Behindert ist man nur, wenn man sich behindern lässt!“

Ich wusste seit meinem zehnten Lebensjahr, dass ich FASD hatte – anfangs stand ADHS im Raum, weil man FASD nicht so gut kannte. Ich konnte damit umgehen, bin aber auch viel damit angeeckt, dass ich Probleme habe, mich den klassischen sozialen Normen anzupassen, da ich anders wirke. Ich halte mich nicht an jede soziale Norm, spreche auch bei Zugfahrten auch mal jemand an, wenn er ein geiles Shirt trägt. Isch bin ne eschte köllsche Jung. Jebore in Bonn, uffjewachse in Köln, offen und meistens gut gelaunt. In Köln kenne ich jede Ecke und fühle mich da immer noch wohl. Diese Weltoffenheit, diese gute Laune, jeder kann mit jedem leben und dann ist alles gut. Diese Werte sind für mich weiterhin meine Heimat.

„Ich bin ein klassischer Otaku.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Ich bin ein klassischer Otaku.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Mir gefällt das Bild, weil man mein wahres Lächeln sieht. Eine Zeitlang habe ich so ein Fake-Lächeln aufgesetzt. Ich bin ein klassischer Otaku. Das Wort löst so ein bisschen den Begriff „Nerd“ ab, und bezeichnet insbesondere solche, die auf Anime, Manga und sowas stehen, das aus dem Japanischen Raum kommt. Ich bin in meiner Jugend das erste Mal mit Pokémon konfrontiert worden. Ich fand das so genial! Ich liebe Anime über alles, Mangabände noch und nöcher, auch das Merch, und besitze jede Menge Caps und Shirts. Otakus lieben auch Sushi, Ramen und die ganze Essenskultur.

Auf diesem Bild trage ich mein Nachtara-Cap. Nachtara ist mein Lieblings-Pokémon. Pikachu kennt jeder. Es gibt aber ungefähr 1008 Pokémon, die alle verschieden sind. Die heißen zum Beispiel Glumanda (das setzt sich aus Glut und Salamander zusammen), Glutexo (Zusammensetzung aus Glut und Echse), Glurak (darin steckt das lateinische Wort Draco) – und wie sie alle heißen. Diese Pokémon aus der ersten Generation stellen eine komplette Evolutionsreihe dar.

„Ich bin ein sehr nachdenklicher Mensch.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Ich bin ein sehr nachdenklicher Mensch.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Das Foto zeigt meine nachdenkliche Seite. Ich bin ein sehr nachdenklicher Mensch, denke ständig nach: über das Leben allgemein, Gott und die Welt. Das zeichnet mich aus. Ich weiß die kleinen Dinge zu schätzen, weil ich so viel nachdenke. Ich weiß zu schätzen, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. Obwohl ich ein Großstadtkind bin, weiß ich ein kleines Dorf zu schätzen. Ich bin nicht der Typ, der einem Wohnungslosen Geld in die Box wirft, aber einer Dame, die ein Schild hatte „Ich habe Hunger“ habe ich etwas vom Imbiss mitgebracht. Ich sehe lieber die Freude eines Menschen über eine warme Mahlzeit, als Alkohol oder Drogenkonsum zu unterstützen.

Ich habe das FASD oft hinterfragt, aber meiner Mutter nie die Schuld gegeben, außer einmal im Streit, und das bereue ich bis heute. Sie wusste nicht, dass sie mit mir schwanger war. Sie hätte nie mit Absicht versucht, mir zu schaden. Das Fatale ist eben, dass sie nicht wusste, wie schnell so eine Erkrankung entstehen kann.
Mit vier Jahren bin ich ins Heim gekommen, dann in eine Pflegefamilie. Dort brach die Hölle für mich los und der Kontakt zu meiner Mutter wurde abgebrochen. In einer Nacht und Nebel-Aktion bin ich von dort zur Polizei gelaufen, habe mich eincashen lassen. Ich kam in ein anderes Heim. Erst mit sechzehn haben wir über das Jugendamt wieder Kontakt zu meiner Mutter aufgebaut. Das erste Mal, dass ich sie wiedergesehen habe, musste ich nicht nachdenken. Ich habe mich in ihre Arme geschmissen. Meine Mutter ist und bleibt meine Mutter, sie ist ein Teil von mir.

Ich habe mir keine Gedanken gemacht, wer diesen Bericht lesen wird, bin aber gerne bereit, die Öffentlichkeitsarbeit zum FASD zu unterstützen. Da bin ich dann wieder extrovertiert. Eine witzige Geschichte: Bei der Tagung „Die Kunst von Menschen, mit FASD zu leben“ hatten zwei Mitarbeiter aus Tilbeck eigentlich eine tolle Präsentation vorbereitet, um professionelle Unterstützungsmöglichkeiten vorzustellen. Sie sind aber schnell zum Background geworden, da das Publikum sich vor allem für uns Menschen mit FASD interessierte.
Am Ende haben mein Kollege Brian und ich eine Rede geschwungen, bei einer Podiumsdiskussion mitgewirkt und Standing Ovations erhalten.

Mir ist wichtig zu sagen: Jeder Mensch, egal was er für eine Beeinträchtigung hat, sollte wertgeschätzt werden. Kein Mensch ist einfach perfekt.

Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/

„Chaos im Kopf“ – Podcastfolge mit Patrick

Homepage von Ingrid Hagenhenrich https://ingrid-hagenhenrich.com/

Biographie einer jungen Frau mit FASD:
„Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen“, Selina Spetter, agenda Verlag Münster
https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/
Biographie von Tim:Tim – ein Leben mit dem fetalen Alkoholsyndrom, Monika Reidegeld, edition blaes – der kleine Verlag
https://shop.editionblaes.de/produkt/tim-ein-leben-mit-dem-fetalen-alkoholsyndrom/

Fachzentrum für Kinder mit FASD: fasd-fz-koeln.de

Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier:
„Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast www.chaosimkopf.info
Institut FASD Münster https: www.institut-fasd.de
FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier https://faszinierend.org/

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