Es muss nicht immer alles rund laufen! Mit der vorerst letzten Kolumne von "Hausfrau & Mutter, berufstätig" wirft unsere Kolumnistin einen Blick in ihren Berufsalltag

Es geht doch nichts über gut strukturierte Lernhilfen... (Foto: Iris Brandewiede)
Es geht doch nichts über gut strukturierte Lernhilfen… (Foto: Iris Brandewiede)

Seit zwei Jahren erscheinen an dieser Stelle monatlich Geschichten aus dem Leben der berufstätigen Hausfrau und Mutter in unser aller Lieblingsstadt. Von Karneval bis Aschermittwoch, von Homeoffice bis Sommerurlaub, von Coerdekult bis Igelschutz, von starken Kindern über miese Rattenfänger bis zu zirpenden Zikaden war alles dabei.

Ab März werden an dieser Stelle starke Menschen sichtbar werden, deren Einschränkungen noch weitgehend unbekannt sind. Kinder, die vor ihrer Geburt dem Alkoholkonsum der werdenden Mutter ausgesetzt sind, können unheilbare Schädigungen davontragen. Selbst wenn sie augenscheinlich als gesunde Babys zur Welt kommen, können sich während des Heranwachsens schwere Einschränkungen zeigen. Verwechslungen mit anderen Syndromen, psychischen Erkrankungen oder die Kategorisierung als Resultat mangelhafter Erziehung sind häufig. Der Weg zu und passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen für alle Beteiligten geprägt. Das „Fetale Alkoholsyndrom“, kurz FAS, wird in Deutschland noch von wenigen Fachleuten erkannt und diagnostiziert. Weiter gefasst und angelehnt an den anglo-amerikanischen Sprachrau wird auch von der „Fetalen Alkoholspektrumstörung“ gesprochen: Fetal Alcohol Spectrum Disorder, kurz FASD.

Die Fotografin Ingrid Hagenhenrich mit ihrem unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor der Kamera nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede nähert sich ihnen mit Worten.

Mit der vorerst letzten Kolumne werfen wir einen Blick in den Berufsalltag der Kolumnistin – und versetzen uns wehmütig zurück in eine Zeit, in der es noch drangvolle Enge beim Reisen mit der Bahn gab.

Es muss nicht immer alles rund laufen!

Mitten im Schuljahr kommt ein neues Mitglied in unsere Schülerband. Kai findet sich an seinem ersten Tag auf dem zerschlissenen Sofa unseres Musikraums. Er trägt schwarze Jeans, schwarzes Sweatshirt und eine schwarze Brille zu dunklem Haar. Seinen blassen Teint erklärt er in der Begrüßungsrunde: Aktivitäten und Sport seien nicht so sein Ding, dafür zocke er ganz gern. Dass er zu Hause rumlungere, habe auch damit zu tun, dass er an der alten Schule gemobbt wurde: „Sobald ich es mit Bewegung versucht habe, waren alle am Lachen. Die meinten, ich habe da nicht so Talent. Ich hab‘ dann ein Attest bekommen und war vom Sport befreit…“ – In derselben Woche wird Kai Mitglied der der Rollstuhlbasketball-AG unserer Schule. Im wendigen Sportrollstuhl Ball zu spielen, findet er cool.

Die Bandmitglieder lernen bald Kais feine Selbstironie kennen. „Kommst du morgen verkleidet?“, fragt ein Mitschüler am Tag vor Karneval. „Tja. Wie man’s nimmt“, antwortet Kai, „Ich wollte das eigentlich richtig durchziehen, mit Kostüm und so. War mir aber doch zu stressig. Jetzt geh ich als ganz normaler Autist.“

Kai kann seine seine speziellen Verhaltensweisen für uns identifizieren. Beim Aufbau des Instruments gerät er ins Stocken: „Entschuldigung, das ist jetzt mein dämlicher Autismus.“ Jede kleinste Entscheidung, erklärt er, kann zu qualvoller Lähmung führen. „Da stehe ich innerlich vor zwei Optionen und weiß nicht, welche richtig ist. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich aus der Nummer raus bin!“ Am Keyboard etwa fragt er sich, mit welchem Finger er einen Ton spielen soll. „Zeigefinger? Daumen?“ rattert es in seinem Hirn, bis zur inneren Katastrophe. Er schwitzt so, dass seine Brille beschlägt.

Wenn ich rechtzeitig eine passende Anweisung gebe, lösen sich Starre und Verzweiflung umgehend. Wenn nicht, gerät er in völlige Verzweiflung. Dann ist er nicht mehr in der Lage, um Hilfe zu bitten. Nach einigen leidvollen Erfahrungen und geduldigen Erklärungen kapiere ich, wann ich einschreiten muss. Dann klappt alles ganz prima.

Wenig später darf ich einen Ausflug von Kais Klasse begleiten. Alle freuen sich auf einen Tag in der nahen Ruhrgebietsmetropole. Kai mag eigentlich keine Unterbrechung seiner Routine, aber er liebt Bahnfahren und benötigt technisches Equipment für sein neuestes Hobby: Er zocke jetzt online auf Youtube, erklärt er grinsend: Laut eigener Zählung inklusive kleinem Bruder habe er schon dreizehn Follower.

Die Jungs packen noch im Start-Bahnhof ihren Proviant aus, dicke Stullen und Apfelschorle, tütenweise Flips und großen Tafeln Schokolade. Kai nimmt zum Frühstück zweihundert Gramm Vollmilchschokolade ein.

Die nächste Bahn ist gestopft voll. Unsere Reisegruppe quetscht sich zwischen zwei Ausstiegstüren. Ich frage mich besorgt, ob die Nähe Kai zu schaffen macht. Er scheint ganz im Gegenteil voll in seinem Element zu sein und spinnt Ideen, um uns mehr Raum zu verschaffen: „Wir könnten uns zum Beispiel alle schrumpfen. Dann hätten wir so viel Platz, dass sogar noch Herr Sperling mit Rollstuhl zwischen uns passen würde!“

Kollege Sperling konnte sich nach einer Knieoperation den Tagestrip noch nicht zumuten, dafür habe ich die Ehre. Kai ist jetzt zum „kleinen Herrn Sperling“ geschrumpft. Er sitzt in einem imaginären Minirollstuhl und imitiert mit Miniaturstimmchen den allmorgendlichen Spruch des Kollegen: „Jetzt erstmal ein Mettbrötchen…!“ Vor meinem inneren Auge beißt der Kollege im Kleinformat heißhungrig in das Zwiebelhack. Bei den anderen funktioniert das Kopfkino ebenso. In unseren hysterischen Lachkrampf schiebt Kai todernst nach: „Oder ich sag einfach wie es ist: Weg da, ich bin Youtuber – ich bin FAME!’“ Die Jungs, darunter fünf von Kais dreizehn Followern, klopfen sich auf die Schenkel: „Jetzt erstmal ein Mettbrötchen….“, „Weg da… ich bin FAME!“ bis der Zug einläuft.

Kais Auftritt wird ein voller Erfolg! (Foto: Iris Brandewiede)
Kais Auftritt wird ein voller Erfolg! (Foto: Iris Brandewiede)

Am Ziel angekommen, besuchen wir zunächst eine Ausstellung über technische Berufe. Nach der Bildungsarbeit folgt endlich der gemütliche Teil der Veranstaltung. Knappe zwei Stunden in der Innenstadt bleiben den Jungs, um einen Imbiss einzunehmen und Einkäufe zu tätigen. Ich schärfe nochmal allen ein, unbedingt pünktlich am Treffpunkt zurück zu sein.

Eineinhalb Stunden später am Treffpunkt: Ich bin eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit hier und scanne die weitläufige Umgebung. Zwei Schüler stehen angespannt vor einer Pizza-Bude, die Blicke auf das Verkaufs-Fenster gerichtet. Kai steht abseits, mit starrem Blick auf die Speisekarte. Da bin ich wohl etwas zu spät gekommen.

Mitschüler Jens gibt mir die Auskunft, Kai stehe seit zwanzig Minuten vor der Speisekarte und reagiere nicht so richtig. Kai schwitzt. Wortwitze zur Speisekarte rufen keine Reaktion hervor. Ganz vorsichtig berühre ich ihn an der Schulter. Er zuckt so heftig zusammen, dass er in meine Richtung rotiert und mir nun mit beschlagener Brille gegenübersteht. Immerhin habe ich ihn mit meiner unpassenden Intervention aus der Schockstarre katapultiert. „Kai, wir müssen los!“, versuche ich vorsichtig. – „Aber ich hab‘ noch gar nichts gegessen,“ antwortet er gequält. „Leider ist die Zeit fürs Mittagessen jetzt vorbei, Kai, was war denn los?“, frage ich. Jetzt platzt eine Tirade aus ihm heraus: „Die anderen meinten, Kai mach hinne, dabei wissen die genau dass ich mich nicht entscheiden kann! Hab‘ ich doch alles schon x-mal erklärt!“ Er wird laut. „…und wegen diesem scheiß Autismus hab‘ ich die ganze Zeit dagestanden und wusste nicht welche Pizza ich nehmen soll und hab GAR NICHTS GEGESSEN!“ Die letzten Worte schreit er. Passanten drehen sich um. Vor meinem inneren Auge ziehen dicke Stullen und eine Zweihundertgrammtafel Schokolade vorbei. Vorsichtig frage ich: „Hast du vielleicht noch etwas Proviant dabei?“ – „Ja, eine Tüte Flips. Aber das ist doch kein Mittagessen, die sind ja nicht warm.“ Sein Ton ist ruhiger, der Zenit scheint überschritten.

Ich schlage vor: „Lass uns zu diesem Bahnhofsbäcker mit den warmen Backwaren zum Mitnehmen gehen!“ In voller Lautstärke bekomme ich, was ich verdiene: „Boah, das ist doch genau das Gleiche, da kann ich mich doch AUCH NIE ENTSCHEIDEN!“ Passanten drehen sich um. Ich schlage mir an den Kopf. Wir müssen beide lachen. Der Bann ist gebrochen. Kai flucht jetzt herzhaft über den verdammten Autismus. Ich bitte aufrichtig: „Kai, entschuldige, das war doof von mir – ich hätte das mit dir vorbereiten müssen!“

Die Zeit drängt. Beim Gedanken an die Rückfahrt hellt sich Kais Gesichtsausdruck auf. Wir rennen zum Treffpunkt. Jens hält ein duftendes Stück Pizza Margherita in der Hand. „Kai, ich hab eins zu viel gekauft, möchtest du…?“ Ein Lächeln huscht über Kais Gesicht. Noch im Gehen verzehrt er sekundenschnell sein warmes Mittagessen.

Auf die Minute pünktlich steigen wir in den Zug. Jens zwinkert unauffällig. Mir wird warm ums Herz. Das war doch wieder mal eine beinahe runde Sache!

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