Armer alter Mann In der heutigen Kolumne macht unsere Autorin sich angesichts babylonischer Verwirrung Luft.

Der größte Albtraum des armen alten Mannes: Gendern. (Foto: Pixabay)

Es war einmal ein alter Mann, der schrieb ein Buch. Sein Verlag schaltete eine Werbeanzeige in einer großen Tageszeitung, auf dass die werte Leser*innenschaft Notiz vom Buche nehmen möge. Eine Schelmin, welche Böses unterstellt: Im letzten Satze der frechen Verfasserin finden sich gleich zwei Verfremdungen!

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Auf Weihnachtskarten der Enkelchen des Buchautors mögen eingeklebte Goldsternchen als i-Tüpfelchen durchgehen. Im Geschriebenen aber haben sie in seinen Augen nichts zu suchen, sagt der Werbetext. Auch seltsame Knacklaute im Gesprochenen sind ihm demnach ein Dorn im Ohr.

Kraft meiner erlernten Profession erlaube ich mir, zu erläutern: Der seltsame Knacklaut ist ein konsonantischer Klang, welcher in vielen Sprachen der Welt zu Hause ist. Im internationalen phonetischen Alphabet besitzt er ein eigenes Zeichen. Dieses sieht aus wie ein Fragezeichen ohne Punkt darunter.

(Quelle: https://www.internationalphoneticassociation.org/IPAcharts/IPA_chart_orig/pdfs/IPA_Kiel_2020_full.pdf)

 

Eine kleinteilige Beschreibung motorischer Feinabstimmungsprozesse von der Steuerung des Atemstroms bis zum kurzzeitigen Luftröhrenverschluss, beide unvermeidlich für die Produktion des phonetisch den Plosiven zugeordneten Lautes würde hier nur langweilen. Wir überlassen sie Gesangslehrerinnen und Sprachpädagogen. Der Anschauung halber wählen wir als Beispiel das zusammengesetzte Deutsche Hauptwort „Spiegelei“. Es mag dem Buchautor bereits einmal über die Lippen gekommen sein. So fremd ist der seltsame Knacklaut unserer Sprache nämlich nicht. Nur mit seiner Hilfe ist das Wort eindeutig verständlich. Sonst klänge es wie Eselei. Die Worte „Buchautor“ und „Werbeanzeige“ eignen sich ebenfalls zum Üben.

Es war einmal ein alter Mann, der hatte Angst. Nicht nur vor Sternchen und Spiegelei, sondern auch vor dem Treiben einer militanten Minderheit, sagt die Werbeanzeige. Die Minderheit sei so groß, dass der Mann mehrere Hilfstruppen der neubabylonischen Sprachverwirrung benennen könne, sagt die Werbeanzeige mit dem Titelbild des Buches, einer Illustration des Turms zu Babel.

Sollte eine militante Minderheit die ganze Welt in der Hand halten…? (Foto: pixabay, bearbeitet)

Die Hilfstruppen, sagt der Werbetext, seien „Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk, Universitäten, Stadtverwaltungen und zeitgeistgetriebene Wirtschaftsunternehmen“. Wie war das mit der Minderheit…? Das kapiere ich nicht.

Ich bin eben eine alte Frau und brauche etwas länger. Ich lese nochmal den Anfang. Die Anzeige schlägt ungebremst mit den Worten „Kommunisten und Nazis“ zu und wirft George Orwells „1984“ samt totalitärem Staat und Neusprech hinterher. Mit alledem, heißt es dann, habe das Gendern nichts zu tun. Die geschlechtssensible Sprache heißt es, wolle ohne Großen Bruder die Wirklichkeit verändern. Weiter fantasiert der Werbetext – oder der Buchautor – von unter Tage arbeitenden Netzwerken, welche die Invasion des Genderns vorantrieben und Wörter auf den Index setzten.

Meine Verwirrung ist komplett. Wie jetzt? Eben klang es noch als wolle der Buchautor Sternchen und seltsame Knacklaute auf seinen Index setzen…?


Was in des Mannes Kopfe vorgeht, bleibt ein Geheimnis (Foto: George Orwell / pixabay; bearbeitet)

Apropos Gendern: Es war einmal ein alter Mann, der bekam eine absurde Angst vorm Diktat, zumindest lässt der Titel seines Buches dies vermuten.

Ich muss nochmal professionell ausholen. Regressive Phasen ereilen uns alle. Sie sind eine gesunde psychische Reaktion. Bei Verunsicherung und in Krisen gehen wir ein paar Entwicklungsstadien zurück und suchen Geborgenheit. Abenteuerlustige Kinder klammern sich wieder an Mamas Bein, wenn sie in die KiTa starten. Von der Account-Managerin bis zum Ziegenhirten machen wir es uns nach einem anstrengenden Arbeitstag gemütlich, lassen uns den Kopf massieren oder nehmen den Hütehund in den Arm. Künstlerinnen und Künstler regredieren um der Kunst willen – sie erschaffen eigene Welten. Bei Bedarf können die Glückspilze sich dort vom Ernst des Lebens erholen.

Hat der beruflich sehr erfolgreiche Wortkünstler es mit der Regression eventuell ein wenig übertrieben? Ist der arme Kerl zum Schüler regrediert, von einer strengen Lehrerin zum Diktat gerufen?

In seinem „meinungsstarken Buch“, sagt der Werbetext, beschreibe der Autor, wie „das Gendern mutwillig den Schutzraum der Muttersprache“ zerstöre. Diese Zusammenfassung tät ich gern am Original überprüfen. Ja, ich sollte das Werk akribisch beforschen, um meine Reputation als redliche Autorin nicht aufs Spiel zu setzen. Doch – oh weh, oh Schicksalsmoment! – genau in diesem Moment krieg ich die Krise! Spontan regrediere ich in meine eigene Welt und werde zum größten Albtraum des armen alten Mannes.

„Günter, setzen! 6 im Gender-Diktat! Statt Berichtigung schreibe 100 Mal: Arrogante Mißachtung des Willens der Mehrheitsbevölkerung wird seit 1996 mit ss geschrieben!“

2 Kommentare

  1. Im übrigen finde ich das ständige Anti-Gender-Gepeste wesentlich strapaziöser als das Gendern selbst. In den meisten Texten fällt das kaum auf, und der Rest ist Gewohnheitssache.

    Ich habe mal als „Argument“ gehört, durch das Gendern würde man Zeit verlieren- aber auf diese Tiraden wird sehr viel mehr Zeit verwendet.
    Die spinnen doch.

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