„Wer bin ich hier außer Flüchtling?“ Beke Honermann untersuchte in ihrer Abschlussarbeit an der FH Münster die Aspekte von Migration während der Adoleszenz

Rami war das Mündel von Beke Honermann. Auch heute sind sie noch immer im Gespräch und eng verbunden. (Foto: FH Münster/Anne Holtkötter)
Rami war das Mündel von Beke Honermann. Auch heute sind sie noch immer im Gespräch und eng verbunden. (Foto: FH Münster/Anne Holtkötter)

Das Gehirn gleicht einer Baustelle – so empfinden Eltern oft ihre heranwachsenden Kinder. Und auch die Jugendlichen selbst sehen die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein als problematisch an, denn die Adoleszenz genannte Phase geht einher mit psychischen und sozialen Veränderungen. „Wer bin ich?“ ist die zentrale Frage in dieser Zeit. Wie gut, wenn Jugendliche in einer stabilen Lebenswelt mit gefestigten ökonomischen und sozialen Ressourcen aufwachsen. „Wer bin ich hier außer Flüchtling?“, fragte Beke Honermann in ihrer Bachelorarbeit für jene, denen der schützende Rahmen von Familie und bislang gelebter Kultur fehlt: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Syrien.

„In ihrer Trauer, Hilflosigkeit und Wut fühlen diese sich nicht verstanden und oft überfordert, wenn man in der Sozialen Arbeit direkt ihre Ressourcen aktivieren will. Vielmehr brauchen sie im wahrsten Sinne des Wortes zunächst ein Ankommen in Sicherheit.“ Um dies zu illustrieren, erzählt Honermann in ihrer Abschlussarbeit am Fachbereich Sozialwesen der FH Münster exemplarisch die Geschichte von Rami.

Er war 15 Jahre alt, als er sich von seiner Familie verabschiedet hat, weil die Eltern wollten, dass er in Frieden aufwächst und studieren kann. Sie wünschten sich für ihn und zwei seiner Brüder, dass sie nach dem Krieg wieder zurückkehren und beim Wiederaufbau helfen. Als Rami nach vierwöchiger Flucht im Oktober 2015 ankam, blieb er als einziger in Münster – alle drei Brüder hatten wegen Transkriptionsdifferenzen verschiedene Nachnamen, galten somit nicht mehr als Brüder und wurden unterschiedlichen Bundesländern zugewiesen. In seiner Internationalen Förderklasse arbeitete Beke Honermann ehrenamtlich als Lehrerin.

Weil das aus der Nähe von Idlib stammende jüngste von zehn Kindern keinen ehrenamtlichen Vormund hatte, übernahm sie dieses Amt. „Ein Vollzeitjob“, wie sie schnell erlebte, „denn Rami war zu diesem Zeitpunkt ein sehr impulsiver, energiegeladener Jugendlicher, emotional instabil und verunsichert. Und ich war für ihn da, wann immer er mich brauchte.“ Fachlichen Input holte sich Honermann unter anderem in der Weiterbildung „Neu in der Flüchtlingshilfe“ an der FH Münster.

Auch Rami habe die Betriebswirtin zu verdanken, dass sie sich im Studiengang Soziale Arbeit eingeschrieben hat. Ihre Erfahrungen mit ihm spiegeln sich in ihrer Bachelorarbeit wider. „Sein Schicksal steht für viele männliche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Adoleszenz und Migration sind beides Findungsphasen mit vielen Gemeinsamkeiten“, sagt die 41-Jährige. „Was passiert aus wissenschaftlicher Sicht, wenn diese gleichzeitig ablaufen? Identitätsbildung und Integration sind mit Konflikten behaftet, dafür müssen wir eine Aufnahmekultur entwickeln“, so die Absolventin.

Deshalb hat sie nicht nur die Chancen und Risiken herausgestellt, sondern gibt auch Impulse, wie die Jugendlichen besser begleitet und beraten werden können – im Mittelpunkt steht dabei die „pädagogische Arbeit mit Herz und die Haltung jedes Einzelnen“. Denn Integration sei keine Bringschuld. Die Jugendlichen bräuchten ein Zugehörigkeitsgefühl, und die Gesellschaft müsse ihre hybriden Identitäten anerkennen. So bekämen sie die Möglichkeit, Syrien im Herzen lebendig zu halten und sich gleichzeitig auf die deutsche Kultur und neue Beziehungen einzulassen. „Betreuer müssen dafür das nötige Wissen über Adoleszenz und Migration haben. Sie brauchen Mut, Geduld, Kreativität und viel Herz, damit den jungen Flüchtlingen die Last, die sie tragen, erleichtert wird.“ Eine wesentliche Erkenntnis der Auseinandersetzung mit dem Thema: Es fehlen empirische Langzeitstudien, die Fragen klären wie „Was hätte ich damals gebraucht, was hat mir bei der Migration während der Adoleszenz geholfen?“. Generell fragend zu bleiben sei ebenso ein Fazit.

Inzwischen hat die Absolventin einen Lehrauftrag am Fachbereich Sozialwesen und würde gerne auch darüber hinaus im Bildungsbereich arbeiten.

Mehr zum Bachelorstudiengang "Soziale Arbeit" an der FH Münster findet ihr hier, und hier mehr über die Weiterbildung zu "Flucht und Trauma. Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen".

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