Es gibt Dinge, die sich wohl nie mehr ändern werden beim Internationalen Jazzfestival Münster: Auch wenn einzelne Künstler irgendwann schon mal auf der Bühne des Theater Münster standen, so sind die vorgestellten Formationen oft zum ersten Mal live in Deutschland zu erleben. Die meisten sprengen die musikalische Grenzen zu anderen Genres, wie Folklore und Weltmusik, Klassik, Pop oder Freier Improvisation – und sie stammen meist aus europäischen Ländern. Oft hat Festival-Leiter Fritz Schmücker sie auf Festivals in Italien oder Frankreich kennen gelernt.
Um einen abwechslungsreichen Ablauf präsentieren zu können, versucht er stets, mit den unterschiedlichen Interpreten ein Programm mit vielen Klangfarben zusammenzustellen. Dafür dankt ihm das geneigte Publikum mit wohlwollendem Applaus. So war es auch am vergangenen Samstag bei der kurzen Ausgabe, dem „Int. Jazzfestival Münster Shortcut 2024“.
Dezente Kontrolle: das Oktett von Zoe Rahman
Fritz Schmücker erzählt bei der Einführung der folgenden Interpreten gerne, wie lange er diese schon „auf seinem Zettel“ hatte, es bisher aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Buchung gekommen wäre. Bei der britischen Pianistin Zoe Rahman und ihrem bisherigen Quartett seien es zehn oder elf Jahre gewesen. Aber das Warten hat sich gelohnt, wie das jubelnde Publikum am Ende des langen Samstagabends bewies. Denn ihre zusätzlich zu ihrem Bruder Idris Rahman um weitere vier Bläser zu einem Oktett gewachsene Band hat eine Spielfreude an den Tag gelegt, die sich schon mit dem ersten Lied auf das Publikum übertrug. Dabei ließ die Chefin alle Mitglieder ihrer großen Band so oft mit Soli glänzen, dass man mitunter kaum etwas von ihrem eigenen, hervorragenden Klavierspiel mitbekam. Das konnte sie dann aber so nach und nach doch immer mehr entfalten, kurz vorm Ende spielte sie sogar eine Weile nur im Trio mit ihrem langjährigen Mitstreiter Gene Calderazzo am Schlagzeug und Alec Dankworth am Bass, während die fünf Bläser für ein paar Minuten die Bühne verließen.
Wie schon im Programm zum Jazzfestival angekündigt, waren vor allem Titel aus dem aktuellen Album „Colour Of Sound“ zu hören, das ja auch das erste von Zoe Rahman in dieser großen Besetzung ist. Die Britin begrüßte mit „Guten Abend“ und lustigerweise mit „Moin“ und kündigte später auch den Verkauf ihrer CD am Merchandising-Stand auf passablem Deutsch an, mit dem sie das Publikum ebenso verzückte, wie mit ihrem perlenden Klavierspiel und der dezenten Art, ihre Band zu führen. Aus der stachen ihr Bruder Idris am Saxophon und gelegentlich der Klarinette sowie der Trompeter Mark Armstrong besonders hervor, aber auch die anderen Bläser sorgten für eigene Akzente: Rosie Turton an der Posaune, Rowland Sutherland an den Flöten und auch die aus Nigeria stammende Camilla George, die auf dem Altsaxophon im Laufe des Auftritts immer mehr glänzte. Applaus gab es auch für die Information, dass die gesamte Band mit dem Zug aus London nach Münster gereist ist und schlussendlich auch für die Zugabe. Der einzige nicht von Zoe Rahman selbst komponierte Titel ihres Sets, „Blue Pepper (Far East of the Blues)“ aus Duke Ellingtons Konzeptalbum „Far East Suite“ von 1967, wirkte aber so, als sei er geradezu für diese Formation geschrieben worden. Es entließ am Ende der eintägigen „Shortcut“-Version des Internationalen Jazzfestivals Münster ein dankbares und wohlwollendes Publikum, das sich jetzt schon auf das nächste dreitägige Festival vom 3. bis 5. Januar 2025 freut.
Schwankende Bäume: „Terre Ballerine“ mit dem Anaïs Drago Trio
Es war allerdings auch wieder geschickt von Fritz Schmücker geplant, das große und dem Modern Mainstream näher stehende Ensemble von Zoe Rahman ans Ende des Programms zu setzen, nachdem vorher zwei wesentlich experimentellere Formationen auf der Bühne standen. Begonnen hatte der Abend um 18 Uhr mit dem Trio der Geigerin Anaïs Drago. Alle drei stammen aus dem Nordwesten Italiens, wo es den kleinen Wald „Terre Ballerine“ gibt, dessen Boden aus Torf besteht, der auf einem See liegt. Man kann auf diesem Boden springen wie auf einem Trampolin, dann wackeln alle Bäume um einen herum im Takt mit, wie Drago im Konzert erzählte. Nach diesem tanzenden Wäldchen „Terre Ballerine“ hat die Italienerin das Projekt ihres Trios benannt – und tatsächlich geriet bei den dreien die musikalische Welt immer wieder aufs Neue ins Schwanken. Denn wie sie sich entwickeln, war zu Beginn der Lieder kaum zu erahnen. Wobei „Lied“ vielleicht gar kein passendes Wort sei, wie die Musikerin selbst meinte: „If song ist the right word“.
So wechselten beim Anaïs Drago Trio nicht nur die Tempi und Klangfarben, sondern auch schon mal die gespielten oder vielmehr zitierten Genres. Nach Ausflügen in die geräuschvollen und oft dissonanten Sphären von Free Jazz oder „Neuer Musik“ ging die Violinisten nahtlos über zu kurzen Ausflügen in klassische Richtungen ihres Instruments, wie Irish Folk, Gypsy Jazz oder sogar Barock-Musik, verließ diese aber schnell wieder in ganz andere Richtungen. Da klangen dann sogar moderne Pop-Musik-Spielarten wie Trip Hop, Drum ’n’ Bass oder Grunge an, wobei Drago ihre Geige schon mal wie ein Kontrabass oder eine Gitarre spielte oder sogar ganz gegen eine E-Violine austauschte, darauf gespielte Segmente loopte oder Effektgeräte wie Flanger verwendete, die sonst bei E-Gitarren eingesetzt werden. Ähnlich vielfältig ging Federico Calcagno mit seinen Klarinetten und vor allem der Bassklarinette um. Mal mehr rhythmisch als melodisch, ließ er es dann wie ein Didgeridoo klingen oder geriet mit der Geige in einen immer wilderen und freieren Wettstreit, der sich aus einer süßlichen, orientalischen Melodie entwickelt hatte. Das Ganze wurde von dem eher zurückhaltend und unterstützend auftretenden Schlagzeuger Max Trabucco zusammengehalten, der bei dem wilden Treiben immer aufmerksam und auf dem Punkt blieb.
„Alchemia Ocean“: Uraufführung für das Jazzfestival Münster
Während die beiden von Frauen geführten Formationen sich beim Jazzfestival Münster zum ersten Mal in Deutschland präsentierten, war das Projekt „Alchemia Ocean“ sogar eine Uraufführung, die eigens für diesen Anlass ins Leben gerufen war. Die internationalen Musiker dieses Quartetts hatten sogar erst bei der Probe am Vortag zum ersten Mal in dieser Kombination zusammen gespielt, wie Fritz Schmücker betonte. Alle vier sind Solisten und Spezialisten auf ihren Instrumenten: Der Österreicher Matthias Loibner an der mittelalterlichen Drehleier, die er sparsam hier und da elektronisch verfremdete. Der Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli, der eine große Zahl ganz unterschiedlicher Schlägel und kleiner Perkussionsinstrumente einsetzte. Im Zentrum stand der Franzose Michel Godard, der statt seiner Tuba diesmal ihren historischen Vorgänger, den hölzernen und schlangenförmigen Serpent spielte. Ergänzt wurden die drei Männer von der in Wien lebenden Griechin Sofia Labropoulou an einem weiteren altertümlichen Instrument, dem Kanun. Diese orientalische Kastenzither war einst im Osmanischen Reich und damit auch in Griechenland weit verbreitet, bis es irgendwann in Vergessenheit geriet. Labropoulou spielte es aber nicht nur wie einst üblich mit auf die Finger gesteckte Plektren, sondern hin und wieder mit unterschiedlichen Schlägeln, wodurch es wie ein Hackbrett klang.
Alle diese Instrumente klangen dann vielseitiger, als man hätte erwarten können. Da begegneten sich die Drehleier und das Kanu in einem Call and Response, bis sich Godard mit allerlei Obertönen oder auch einem harmonischen Solo auf dem Serpent anschloss und schließlich Niggli am Schlagzeug mit vielen Einfällen ganz eigene Akzente setzte. Alle hatten die Ruhe, auch mal Pausen zu setzen, um die Spannung zu erhöhen. Trotz einiger Ausflüge in die experimentelle freie Musik wurde es doch immer wieder sehr lyrisch und harmonisch – im Laufe dieses einen Konzerts schienen diese vier Individualisten immer mehr zu einer Einheit zu verschmelzen. Der Plan von Fritz Schmücker, mit dieser Zusammenstellung weitere neue Klangfarben einzubringen, ist also auch wieder aufgegangen. Und die Verlegung des eintägigen „Shortcuts“ vom Sonntag- auf den Samstagabend war ebenfalls eine gute Idee.
Ein großer Teil des Festival-Abends ist am Samstag live von WDR 3 übertragen worden. Diese fast 3 Stunden könnt ihr noch bis zum 05.02.2024 in der Mediathek auf wdr.de nachhören. Fotos und Links zu anderen Artikeln über das Jazzfestival veröffentlicht das Veranstaltungsteam über ihre Facebook-Seite.
Noch mehr Bilder vom Jazzfestival Münster Shortcut 2024 findet ihr in unserer Fotostrecke:
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