Jenseits purer Eitelkeit zeichnet Geier Sturzflug-Sänger Friedel Geratsch in seiner Biografie „Eins kann mir keiner…“ das eindrucksvolle Portrait einer Generation zwischen Spießertum und Aufbruch. Eine ‚tragende Rolle‘ spielt neben dem Ruhrgebiet auch immer wieder Münster mit seiner reichen Musikszene im Leben des Sängers, Texters, Multi-Instrumentalisten, Komponisten sowie dem ebenso erfindungsreichen Instrumentenbauer und Bastler. Zum 70. Geburtstag am Ende dieses Monats bereitet er damit seinen Fans, Freunden und Feinden ein ganz besonderes Fest für Augen und Ohren.
Als am Pfingstmontag 2017 gegen 18:40 Uhr eine Terrorwarnung das vorläufig jähe Aus bedeutete für „Rock am Ring“, gab es nicht etwa wilde Tumulte frustrierter Musikfans. Ganz im Gegenteil. Bei Twitter z.B. postete ein Festivalbesucher wortgemäß: „Das Festivalgelände wird evakuiert, und die Menschenmenge singt: Eins kann mir keiner nehmen, und das ist die Pure Lust am Leben.“ Dem Spiegel war das zumindest ein kurzer Absatz wert innerhalb seiner Berichterstattung zu diesem Ereignis – der Stern dokumentierte mit dieser Geier Sturzflug-Refrainzeile als Überschrift sogar eine mehrseitige Fotoreportage über die friedfertige Evakuierung der gut 50.000 Musikfreunde.
Gut anderthalb Jahre später, noch rechtzeitig vor der Covid 19-Pandemie, ‚entdeckte‘ auch Florian Silbereisen diesen Geier-Titel. Seitdem eröffnet der Traumschiff-Kapitän seine saisonalen Schlagershows mit einer eigens produzierten und von ihm jeweils live gesungenen Version der ‚Puren Lust‘.
Tatsächlich entwickelte sich die Nummer mit Erstveröffentlichung 1984 zum Dauerbrenner. 1998 war die „Pure Lust“ der Rahmensong für die „Hitrevue“, auf der erstmals auch ‚Neuzugang‘ Geier Carlo zu hören war. Es gab von den Geiern eine Milleniumsversion im Jahr 2000, mehrere Coverversionen von Dick und Doof für Groß und Klein, sowie 2004 den Song „Pure Lust am Überleben“ der Dschungelcamp-Allstars der 1. Staffel dieser TV-Show ausTralien, inklusive Costa Cordalis und Daniel Küblböck, eine Single, die es erstaunlicherweise (?) bis auf Platz 17 der deutschen Charts schaffte.
Kein Wunder also, dass sich Geier-Mastermind Friedel Geratsch eine Zeile dieses Liedes ausgesucht hat als Titel für seine Biografie. Äußerlich kommt sein Buch, verlegt von dem kleinen aber feinen RoBiDo-Verlag aus Hannover, zwar daher wie die XL-Version der „Mao-Fibel“. Inhaltlich hat Geratsch allerdings mehr zu bieten als agitatorische Religionsersatzparolen. Aber F.G. wäre nicht der liebenswerte Kauz, als den wir Freunde ihn kennen, hätte er seine Autobiographie Pure Lust betitelt. „Eins kann mir keiner…“ passt da schon griffiger zu dem Hauptschüler aus Essen und seinem Leben, das er im Buch und in Songtexten mehrfach vergleicht mit einem Fahrstuhl: mal rauf – mal runter!
Und schon sind wir beim ersten Problem der Geier. Gab es mit den ersten Schülerbands, die unter anderem Songs der Beatles und Stones coverten, kaum mehr als erste Meriten, kleine Saufgelage und zaghafte Liebeleien des zugegeben äußerst schüchternen Friedel – benannt nach seiner im 2. Weltkrieg verstorbenen Tante – so sollten ausgerechnet die friedensbewegten „Rock Gegen Rechts“-Fans zu den ersten größten Feinden der dadurch völlig verblüfften Band werden. „Besuchen Sie Europa (so lange es noch steht)“ war sicherlich kein Wunschtitel von Dieter Thomas Heck. Zumal ihm Friedel bereits mit der „herunterholenden Müllabfuhr“ ein Lausbuben-Kuckucks-Ei ins ZDF-Hitparade-Nest gelegt hatte, von dem sich alle Beteiligten erst 20 Jahre später wieder erholten.
1983 vor mehr als 100.000 Gegnern von Atomwaffen, Krieg und Neofaschismus hätten sich die Hardliner vielleicht sowas wie die Fun-Punks von den Abstürzenden Brieftauben gefallen lassen. Aber Geier Sturzflug wurden nach und vor Reden von Politikern wie Willi Brandt und einem Literaten wie Heinrich Böll wahrscheinlich nur deshalb nicht ausgebuht, weil sie schlecht bis gar nicht zu hören waren. Ironie der Historie: genau vor dieser Kulisse, dem Bonner Hofgarten, wurde Friedel Geratsch für eine der ungezählten 1980er-Dokus genau zu diesem Ereignis interviewt. Ja, das war nicht nur in Deutschland immer ein Problem, vom Liebling der Linken zum Bravo-Boy aufzusteigen. Selbst Nobelpreisträger Dylan hat davon schon manches Liedchen gesungen.
Friedel weiß in seiner Autobiografie davon zu berichten, ungeschminkt, selbstironisch und meistens ohne bitterem Unterton. Und selbstverständlich heißt das beim Ruhrpott-Jungen, der hier erstmals mehr schreibt als lustige oder melancholische Verse:
Alles, was ihr über die Geier wissen wollt
(…und womit ihr mich schon dauernd fragend genervt habt).
Wie geschrieben: der Fahrstuhl der Geier ging immer rauf und runter. 1996 trafen sich Gebrüder Engel-Thomas und Geier-Friedel, und weil weder die Bands von Thomas – die Engel und die Moonbeats – noch die Geier besonders erfolgreich waren, taten sich die beiden Meister zusammen. Und obwohl jeder von den Zweien so seinen eigenen Dickkopp hatte, funktionierten die Geier plötzlich wieder astrein.
Zunächst holte sich Thomas Paßmann-Engel, der alsbald als Geier Carlo firmierte – weil er ständig mit dem Sportler Carlo Tränhardt verwechselt wurde – Verstärkung aus der reichlich vorhandenen münsterschen Musikszene. Kein Geringerer als Peter „Backi“ Backhausen – Lindenbergs erster Panik-Trommler – sowie Keyboarder Stefan „Hasi“ Hasenburg (Roger Trash Band u.v.m) verstärkten die Band. Solange, bis leider auch der letzte Geier merkte, dass man entweder Megahits neu schreiben musste wie die Münchener Freiheit oder eine Fanbase brauchte wie die Spyder Murphy Gang (nicht nur) in Bayern, um als Band live erfolgreich sein zu können.
Es wurden ein paar wilde Stoffmuster ausgesucht für die Liveperformance als Duo. Da meine Wenigkeit ein Freund war von Thomas, durfte ich ein paar lose Sprüche abfeuern („Zurück aus dem Urlaub!“ – „Antanzen! Mitsingen! Abfeiern!“), ein gemeinsamer Freund aus Emsdetten mit ’ner Werbeagentur setzte alles wunschgemäß kostengünstig und kunterbunt in Szene. Tja, und schon fuhr der Fahrstuhl die Geier wieder nach oben. Und auf die Plattenteller der Ballermänner. Jetzt hatten die Geier endgültig verschissen. Da es aber nach der Jahrtausendwende mehr Mobiltelefonierer mit unfaßbarer Gier nach Klingeltönen gab als Hausbesetzer und DKP-Wähler, konnte Conny endlich ihren Friedel heiraten – schließlich brauchte der geliebte Haushund geordnete Verhältnisse.
Seit 2011 allerdings hat sich Friedel – bis auf wenige TV-Auftritte – aus dem Live-Geschäft mit Geier Sturzflug zurück gezogen. Nach einigem Hin- und Her – u.a. mit UKW-Sänger Peter Huber, der in den WN nach einem Konzert in Münster schon mal zur Belustigung aller Fans als Geier Friedel interviewt und fotografiert wurde – entpuppte sich der Musiker und Sänger Rainer Hundsdoerfer – nun also Geier Junior – als perfekter Duo-Partner für Geier Carlo.
Auf seinem Blog im Internet hat sich Friedel Geratsch jahrelang immer wieder mal verabschiedet: „Ich trete ab sofort nicht mehr live auf!“ – „Ich nehme keine neuen Songs mehr auf!“ – „Meine Suppe ess ich nicht – Nein, ich esse meine Suppe nicht!“
Glücklicherweise dürfen wir seitdem den zum Cigarbox-Gery verwandelten F.G. auf zahlreichen beeindruckenden Blues-Scheiben mit u.a. selbst gebauten Zigarrenkistengitarren (CBG) und Koffer-Bassdrums hören. Mit Friedels Blues-Trio Garage 3, als Duo mit Adi Hauke und zuletzt mit seinem erstaunlichen Alterswerk, der CD „Mit dem Abstand der Jahre“. Und auf dem X-4-Tel-Fest in MS konnten Garage 3 auch bereits begeistern – ohne dass die meisten im Publikum wussten, wer da eigentlich auf der Bühne stand. Friedel Geratsch fands gut. Wie „Teen Spirit“ riecht, hatte er in den 1980er mit den jugendlichen Geier-Fans zur Genüge erlebt.
Die dem Buch beigelegte CD „Aus dem Ruhrpott“ ist zudem eine wirklich ‚Klasse Platte‘ mit 16 Titeln, alles neue bzw. alternative Versionen. Anspieltipp: „Rotwein“. Und mit „Eins kann mir keiner…“ können nicht nur Geier Sturzflug-Fans ein wirklich gelungenes Buch in Händen halten. Auch Comic- und Filmfans wird ein spektakuläres Daumenkino geboten: Die Auferstehung der sagenhaften Fliegershow!
Der Rezensent hofft, dass sämtliche Leserinnen und Leser bei jedem Kapitel spüren, wieviel ‚Schweiß, Blut und Tränen‘ letztlich doch zur Puren Lust am Schreiben wurde, und somit wir Buch und CD genießen können als die „PURE LUST AM HÖREN und LESEN“.
MARIUS MÜNSTER
Mehr zum Buch auf der Seite des Verlags www.robido.de
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