Interview: Leben retten kostet Geld

(Foto: Archivbild)
Im Notfall muss es schnell gehen. Die Feuerwehr Münster koordiniert die Rettungseinsätze. (Foto: th)

Verkehrsunfall, Luftnot, Herzinfarkt – ein Notfall kann jeden treffen. Dann ist schnelle Hilfe am Wichtigsten. Aber wie schnell ist schnell? Das ist festgelegt und nennt sich Hilfsfrist. Es ist die Zeit, in der ein Rettungswagen am Ort des Geschehens eintreffen muss. Im ALLES MÜNSTER Interview lässt uns der Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes, Priv.-Doz. Dr. Andreas Bohn, hinter die Kulissen schauen.

Wer sagt, wie schnell der Rettungsdienst vor Ort sein muss?
Die Kreise und Städte als Träger des Rettungsdienstes müssen das sicherstellen. Als ausreichend gilt in NRW eine Zeit von bis zu acht Minuten im städtischen und zwölf Minuten im ländlichen Bereich. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat dazu ergänzend die Aussage getroffen, dass es angemessen ist, wenn die Zeitvorgaben in 90 Prozent der Fälle erreicht werden. Es ist keine mittlere Eintreffzeit, sondern in acht bzw. zwölf Minuten muss der Wagen in 90 Prozent der Fälle tatsächlich am Einsatzort sein.

Das bedeutet, es gibt kein Gesetz?
In NRW gibt es keine gesetzliche Regelung. Die Aussage des Gerichts ist aber Orientierungsgröße und Maßstab bei der Beurteilung von Rettungsdiensten. Deshalb hat der Gesetzgeber vermutlich bisher darauf verzichtet.

Wie viele Wagen stehen in Münster zur Verfügung?
Sieben Rettungswagen stehen 24 Stunden am Tag bereit. Aber wir haben nicht nur die 24 Stunden besetzten Fahrzeuge, sondern auch weitere im Früh- und Spätdienst. Um da, wo statistisch die häufigsten Einsätze sind, reagieren zu können.

Kinderhaus zum Beispiel…
Kinderhaus ist kein besonderer Schwerpunkt. Wir fahren zwar oft nach Kinderhaus, das liegt aber daran, dass dort so viele Menschen auf relativ wenig Fläche wohnen.

Im Stadtgebiet von Münster muss ein Rettungswagen also in 90 von 100 Einsätzen innerhalb von acht Minuten vor Ort sein muss. Wo fangen hier die ländlichen Gebiete an?
Nienberge-Häger ist ein klassisches Beispiel für eine ländliche Situation – dahin dürfen wir auch zwölf Minuten brauchen.

Müssen Sie über die zehn Prozent der Einsätze, in denen Sie den Patienten nicht in den acht bis zwölf Minuten erreichen, Rechenschafft ablegen?
Das Serviceversprechen ist, dass wir in 90 Prozent der Fälle in acht bzw. zwölf Minuten da sind. Solange wir das einhalten, zählen die Einsätze, in denen das nicht so ist, zu den Unwägbarkeiten, die zum Leben dazu gehören. Wir müssten erst dann Rechenschaft ablegen, wenn es mehr als zehn Prozent wären.

Was sind solche „Unwägbarkeiten“?
Das können Wetterbedingungen sein, Bahnschranken, Verkehr. Es kann auch sein, dass man uns die falsche Hausnummer sagt oder die falsche Straße. Oder, dass es gar keine Hausnummer gibt. Aber wir waren im Jahr 2015 in 91 Prozent der Fälle sogar in unter acht Minuten vor Ort.

Dabei kommt es meist auf jede Minute an. Beispielsweise bei einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall.
Drei bis fünf Minuten – das ist die Phase, in der das Gehirn Schaden nimmt, wenn es nicht ausreichend versorgt wird. Schneller wäre also besser, aber ein Rettungsdienst muss immer auch finanzierbar sein. Natürlich kann ich als Arzt sagen, ich fordere das, aber das muss sich die Gesellschaft eben leisten können. Deshalb geben wir beispielsweise auch telefonisch Anweisungen zur ersten Hilfe, um die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes zu überbrücken.

Wie viele Einsätze haben Sie pro Jahr?
Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze ist dramatisch gestiegen – wir hatten fast 30.000 Rettungswagen-Einsätze im letzten Jahr. Wir werten das genau aus. In 91 Prozent sind wir in den städtischen Bereichen in unter acht Minuten vor Ort gewesen und in 94 Prozent sind wir in zwölf Minuten in den ländlichen Bereichen angekommen. Trotzdem haben wir auf der Basis jährlich steigender Einsätze mit den Krankenkassen neue Wagen vereinbart.

Weil es mehr Einwohner gibt und die Menschen älter werden?
Wir wissen nicht genau, wieviel auf was zurückgeht. Es ist eine spannende Mischung aus verschiedenen Faktoren. Vermutlich ist es in Münster eine Mischung aus einer steigenden Einwohnerzahl und mehr Arbeitsplätzen in der Stadt: 40.000 Menschen pendeln jeden Tag nach Münster. Aber ein wichtiger Punkt ist leider auch die veränderte Wahrnehmung der Menschen, was die Aufgaben des Rettungsdienstes betrifft. Früher war ein Einsatz eine große Sache, heute ist die Einstellung der Leute die, dass ein Rettungswagen auch bei Kleinigkeiten kommen muss. Kürzlich hatte ich eine Beschwerde auf dem Tisch, weil die Mutter eines erwachsenen Sohnes erwartet hat, dass der Rettungsdienst dessen Durchfall behandelt. Ein anderer Punkt ist, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen länger leben. Da kann es immer zu plötzlichen Zustandsverschlechterungen kommen. Das alles zusammen führt zu einer Zunahme der Einsätze.

Warum sind die Krankenkassen für die Finanzierung des Rettungsdienstes verantwortlich?
Das liegt daran, dass in ganz Deutschland der Rettungsdienst Aufgabe der Kommunen ist, aber finanziert wird durch die Krankenkassen, gegenfinanziert durch die Krankenkassenbeiträge. Die Feuerwehr und die Polizei dagegen werden durch staatliche Mittel finanziert.

Kommt es vor, dass eine Krankenkasse einer Finanzierung nicht zustimmt, immerhin ist es ein Wirtschaftsunternehmen. Was passiert dann?
Das ist genau festgelegt im Gesetz. Wenn die Krankenkassen sagen, wir machen das nicht, dann gibt es eine Schiedsstelle, das ist die Bezirksregierung. Sie prüft, ob der Rettungsdienst die sprichwörtlichen „goldenen Wasserhähne“ fordert oder ob der angemeldete Bedarf gerechtfertigt ist. Auf der Grundlage fällt er eine Entscheidung. Bisher hatten wir aber solche Probleme nicht.

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