Zweieinhalb Jahre hat ein fünfköpfiges Wissenschaftsteam der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) sexuellen Missbrauch im Bistum Münster untersucht. Am Vormittag wurde das Ergebnis der Studie Betroffenen und Pressevertretern vorgelegt. Demnach sollen sich zwischen 1945 und 2020 mindestens 196 Kleriker aus dem Bistum an mindestens 610 Minderjährigen vergangen haben. Die Dunkelziffer wird wohl acht bis zehn Mal höher liegen, schätzen die Forscher.
Konkret handele es sich bei den Tätern um 183 Priester, einen ständigen Diakon und 12 Brüder einer dem Bischof lange Zeit unterstellten Ordensgemeinschaft. Im Bericht der 2019 begonnenen Studie, die durch das Bistum in Auftrag gegeben wurde, sprechen die Wissenschaftler von massivem Leitungsversagen. „Die Bischöfe und andere Verantwortliche in der Bistumsleitung wussten über die Taten zum Teil ausführlich Bescheid“, erklärt Prof. Dr. Thomas Großbölting, der mit Prof. Dr. Klaus Große Kracht hauptverantwortlich für die Studie ist. „Nicht erst seit dem Jahr 2010 – als der Missbrauchsskandal in der deutschen Öffentlichkeit hohe Wellen schlug – war ihnen in vielen Fällen bekannt, dass Priester des Bistums Münster Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene sexuell missbraucht haben.“ Viele der Betroffenen erlebten wiederholt sexuellen Missbrauch durch die Täter, in 43 Fällen habe es starke körperliche Gewalt gegeben, heißt es weiter. Etwa drei Viertel der Betroffenen waren männlich und um 11 Jahre alt, häufig hatten sie als Messdiener oder durch andere Gruppierungen eine enge kirchliche Bindung, die die Täter skrupellos ausnutzten.
Öffentliche Skandale vermeiden
Wie die Untersuchungen zeigen, wurde ein Großteil der beschuldigten Geistlichen lediglich versetzt, aber „nicht in ihren seelsorglichen Tätigkeiten eingeschränkt“. „Die erschreckende Bilanz lautet, dass bis über das Jahr 2000 hinaus die Personalverantwortlichen des Bistums Münster ihrem Wächteramt im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch durch Kleriker der Diözese nicht gerecht geworden sind“, verdeutlicht Klaus Große Kracht. „Sie haben vertuscht, geschwiegen und lediglich vordergründig eingegriffen, wenn es darum ging, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden.“ Selbst unter Bischof Felix Genn, der seit Ende 2008 im Amt ist, brauchte die Bistumsleitung zunächst eine gewisse Zeit, „bis sie gegen Missbrauchstäter in den eigenen Reihen so rigoros und unzweideutig vorging, wie es in den vergangenen Jahren zum Standard im Bistum Münster geworden ist“.
Bischof Genn äußert sich am Freitag
Genn selbst kennt die Studie noch nicht. Die WWU hatte entschieden, die Ergebnisse der Studie zunächst Betroffenen und Medienvertretern vorzustellen. „Das halte ich für richtig und auch das ist ein weiterer Ausdruck des völlig unabhängigen Vorgehens der Universität vom Bistum“, so der Bischof in einem ersten Statement. „Ich übernehme selbstverständlich die Verantwortung für die Fehler, die ich selbst im Umgang mit sexuellem Missbrauch gemacht habe. Ich war und bin Teil des kirchlichen Systems, das sexuellen Missbrauch möglich gemacht hat. Das bin ich seit vielen Jahren an verantwortlicher Stelle: als Regens und Weihbischof in Trier, als Bischof von Essen und Münster. Von daher habe ich neben der persönlichen auch eine institutionelle Verantwortung. In dieser doppelten Hinsicht trage ich eine Mitverantwortung für das Leid von Menschen, die sexuell missbraucht wurden.“
Am Freitag will Bischof Genn sich äußern, welche Maßnahmen er für das Bistum im weiteren Umgang mit sexuellem Missbrauch auf den Weg bringen werde und welche Konsequenzen er bereits gezogen habe. Am Abend werden die Ergebnisse ab 17:30 Uhr in der Aula des Schlosses der Öffentlichkeit präsentiert. Es besteht alternativ die Möglichkeit, per „Zoom“ digital teilzunehmen. Link und Einwahldaten: https://go.wwu.de/aubim (Kenncode: 306835).
Hintergrund
Die Initiative für die Studie ging vom Bistum Münster aus, das auch die Finanzierung in Höhe von 1,3 Millionen Euro übernahm. Ein achtköpfiger Beirat, darunter auch drei Betroffene, hatte die Forschung begleitet und die WWU ihre Ethik-Beauftragte entsandt. Für die Untersuchung wurden Akten gesichtet und Gespräche mit Opfern geführt. Die Studie steht zum freien Download zur Verfügung. Das Bistum hat für Betroffene und für Menschen, die Angaben zu Fällen sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster machen wollen, eine Hotline eingerichtet. Diese ist bis Sonntag (19.06.) zwischen 10:00 und 19:00 Uhr unter 0251 / 495–6252 zu erreichen.
Hinweis: Du hast in deiner Kindheit oder Jugend sexuellen Missbrauch erlebt? Du bist aktuell davon betroffen oder kennst jemanden, der Hilfe benötigt? Dann findest du Informationen über Beratungsangebote und weitere Hilfen unter https://www.hilfeportal-missbrauch.de und beim "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" unter 0800-22 55 530 (kostenfrei und anonym).
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