Wer wohnt schon gern auf Bomben? Wie gefährlich und wie notwendig es ist, Bomben-Blindgänger zu entschärfen, erzählte uns Susanne Reckhorn-Lengers von der Feuerwehr Münster

In Münsters Boden stecken wahrscheinlich noch viele Bomben, die gefährliche Arbeit der Kampfmittelbeseitigung ist nach Sonntag noch lange nicht erledigt. (Archivbild: Thomas Hölscher)
In Münsters Boden stecken wahrscheinlich noch viele Bomben, die gefährliche Arbeit der Kampfmittelbeseitigung ist nach Sonntag noch lange nicht erledigt. (Archivbild: Thomas Hölscher)

Am morgigen Sonntag müssen bis 10 Uhr etwa 16.000 Münsteraner ihre Wohnungen verlassen, damit an drei verschiedenen Verdachtspunkten mögliche Bomben-Blindgänger entschärft werden können. Sie werden an Stellen vermutet, an denen viele von uns wahrscheinlich schon oft vorbei gelaufen sind. Und es werden sicher nicht die letzten sein. Denn über Münster wurden im 2. Weltkrieg sehr viele Bomben abgeworfen, von denen ein beachtlicher Teil gar nicht explodiert ist, sondern irgendwo im Boden steckt.

Die Evakuierung ist für viele sicher lästig, aber eben auch unumgänglich. „Wer wohnt schon gern auf einer Bombe?“ fragt deshalb eine Broschüre der Feuerwehr Münster, die sich vorrangig an Bauherren im Stadtgebiet wendet. Schließlich müssen sie einen „Antrag auf Kampfmittelüberprüfung“ stellen, damit beim Hausbau nicht unvorgesehen etwas hoch geht. Aber auch die geplante Entschärfung selbst ist nicht ungefährlich. Wir haben dazu ein paar grundsätzliche Fragen gestellt, die uns Susanne Reckhorn-Lengers von der Feuerwehr Münster beantwortet hat.

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Frau Reckhorn-Lengers, wie finden Sie und Ihre Kollegen heraus, wo welche Art von Bomben im Boden stecken könnten?

Das gesamte Stadtgebiet der Stadt Münster gilt als Bombenabwurfgebiet. Aus diesem Grunde sollte bei jedem Bauvorhaben mit Erdeingriffen ein Antrag auf Kampfmittelüberprüfung bei der Feuerwehr als örtlicher Ordnungsbehörde gestellt werden. Die Feuerwehr beantragt daraufhin eine Luftbildauswertung bei der Bezirksregierung Arnsberg (Kampfmittelbeseitigungsdienst Westfalen-Lippe). Auf Basis der Luftbildauswertung wird die Kampfmittelbelastung für die beantragte Fläche ermittelt. Dazu gehören auch mögliche Bombenblindgänger-Einschlagstellen, sogenannte Verdachtspunkte (VP). Anhand eines VP kann allerdings noch nicht gesagt werden, ob sich im Untergrund tatsächlich ein Bombenblindgänger befindet und schon gar nicht mit welchem Kaliber. Aussagen hierzu können letztlich nur nach einer Bohrlochdetektion mit anschließender Aufgrabung des Objektes gemacht werden.

Was passiert dann? Wer entscheidet, ob nach den vermuteten Bomben gegraben wird oder nicht?

Sofern durch die Bohrlochdetektion eine bombenblindgängerähnliche Anomalie im Boden gemessen und festgestellt wird, handelt es sich um einen Kampfmittelverdacht, der im Rahmen der Gefahrenabwehr aufgeklärt werden muss.

Finden solche Bomben-Entschärfungen nur statt, weil Baustellen geplant sind oder geht man auch ohne diesen Anlass an Verdachtsfälle ran?

Gemäß § 13 Satz 2 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (BauO NRW 2018) muss ein Baugrundstück für bauliche Anlagen geeignet sein. Dieses schließt die Überprüfung des Grundstückes auf Kampfmittel grundsätzlich ein. Der Nachweis ist unumgänglich, wenn Arbeiten im Boden vorgenommen werden sollen. Die baurechtliche Pflicht zur Klärung, ob Kampfmittel bei einem zu bebauenden Grundstück konkret zu vermuten sind, und die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen zur Ausräumung dieses Verdachtes, liegen grundsätzlich in der Verantwortung des Bauherren.

Was schätzen Sie: wie viele Bomben aus dem 2. Weltkrieg liegen noch im Boden von Münster verborgen?

Bei mehr als 100 Luftangriffen während des 2. Weltkrieges wurden über der Stadt Münster ungefähr 32.000 Spreng- und über 640.000 Brandbomben abgeworfen. Fachleute schätzen, dass ca. 15% bis 20% nicht explodiert sind und als Blindgänger in Wohngebieten, Industrie- und Gewerbeanlagen und in freien Flächen liegen. Wie viele Kampfmittel sich noch im Boden befinden, ist unbekannt.

Mitarbeiter der Kampfmittelbeseitigung bei einer Entschärfung auf Münsters Domplatz (Archivbild: Thomas Hölscher)
Mitarbeiter der Kampfmittelbeseitigung bei einer Entschärfung auf Münsters Domplatz (Archivbild: Thomas Hölscher)

Sind die alle gefährlich? Oder kann man die einfach liegen lassen, weil bisher nichts passiert ist?

Grundsätzlich sind alle Kampfmittel gefährlich, da sie Sprengstoff enthalten. Jährlich kommt es zu ein bis zwei Selbstdetonationen von Bombenblindgängern im Bundesgebiet, bei denen die Kampfmittel sich ohne äußere erkennbare Belastung selber umsetzen. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund starker Korrosion nach langer Liegezeit Kampfmittel schon bei mäßiger mechanischer Beanspruchung zur Wirkung kommen oder zerfallen und dabei ihre Inhaltsstoffe freisetzen können.

Gab es hier in Münster oder in der Umgebung schon einmal ein Unglück bei der Entschärfung?

Eine Liste der mir bekannten Unfälle füge ich bei (siehe Kasten unten). Vor einer guten Woche erst ist es zur Umsetzung eines Kampfmittels auf einer Baustelle in Münster gekommen. Es gab keine Personenschaden. (siehe unseren kurzen Beitrag „Blindgänger am Hessenweg explodiert“. Das Interview fand am gleichen Tag statt, Frau Reckhorn-Lengers lagen zu dem Zeitpunkt noch keine näheren Informationen dazu vor. Die Red.)

Wie schützen sich die Leute, die das Ausgraben und das Entschärfen durchführen?

Die Feuerwerker können sich körperlich nicht schützen. Der beste Schutz ist Fachwissen, Erfahrung und Ruhe.

Die Broschüre "Wer wohnt schon gern auf einer Bombe?" liegt in der Bürgerinfo im Stadthaus I und im Stadthaus III aus. Die Feuerwehr Münster stellt sie unter diesem Link als PDF zum Download zur Verfügung.
"Der beste Schutz ist Fachwissen, Erfahrung und Ruhe", sagte uns Susanne Reckhorn-Lengers von der Feuerwehr Münster, aber auch: "Die Feuerwerker können sich körperlich nicht schützen." Wie gefährlich diese Arbeit und warum die Evakuierung nötig ist, zeigt die Liste der Vorfälle, die sie uns mit den Antworten mitgeschickt hat. Hier nur ein Auszug daraus:
April 1978: Bei Spundwandbohrungen für den Bau des City-Hauses in Rheine in der Nähe des Bahnhofs stoßen zwei Maschinenführer plötzlich auf einen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Die 500 Kilo schwere Bombe detoniert. Eisenträger wirbeln durch die Luft, Dächer werden abgedeckt, Baggerteile fliegen bis in Höhe des dritten Stocks des Rheiner Rathauses. Vor dem Gebäude entsteht ein Krater von mehr als zehn Metern Durchmesser. Die beiden Maschinenführer und ein weiterer Bauarbeiter sind sofort tot. 16 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. 
August 1990: Beim Entschärfen einer Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg sterben in Wetzlar zwei Sprengstoffexperten, als der Sprengkörper explodiert. Drei Fachleute vom Kampfmittelbeseitigungsdienst erleiden schwere Verletzungen 
Juni 2010: Bei einer Routine-Entschärfung explodiert ein Blindgänger in Göttingen. Drei Sprengmeister kommen ums Leben. Zwei Menschen werden schwer verletzt, vier weitere erleiden einen Schock. Die mit einem Langzeitzünder ausgestattete Bombe war bei Bauarbeiten auf einem Schützenplatz in sieben Metern Tiefe entdeckt worden.  
August 2012: Eine US-Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg wird im Zentrum von München kontrolliert gesprengt. Versuche, die 250kg schwere Bombe zu entschärfen, waren erfolglos. Die Druckwelle beschädigt Fassaden und Fenster. 
September 2012: In Viersen kommt es bei der kontrollierten Sprengung einer Weltkriegsbombe zu Verwüstungen. In der Fußgängerzone müssen Teile von Geschäften abgerissen werden. 
Oktober 2012: Kontrollierte Sprengung einer 125kg-Fliegerbombe im Dortmund-Ems-Kanal in Münster
Mai 2019: In Bochum muss eine 250kg-Bombe  kontrolliert gesprengt werden. Nach Untersuchung des Kampfmittelbeseitigungsdienstes konnte die Bombe nicht entschärft werden. Vor der Sprengung hatten rund 1.800 Menschen ihre Wohnungen verlassen müssen. Auch verschiedene Firmen und der öffentliche Nahverkehr waren betroffen. Eine Bahnstrecke musste für die Zeit der Sprengung stillgelegt werden.
8. September 2020: Am Hessenweg in Münster explodiert eine Fliegerbombe, die mit angelieferter Erde auf die Baustelle gelangt war. Menschen wurden nicht verletzt.

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